Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
Lippenstift sah aus, als hätte sie ihn frisch aufgetragen. Wie lange würden sie ihm noch gönnen? Wann würde eine übereifrige Schwester hereinplatzen, um ihn für immer von Jujú zu trennen? Er nahm ihre perfekt manikürte Hand und streichelte sie, als könne er ihr damit die Furcht vor dem nehmen, was sie nun erwartete. Jujú hatte immer Angst vor dem Tod gehabt. Und jetzt war er einfach so gekommen, unerwartet und schnell, war einfach in ihren Alltag geplatzt wie ein ungebetener Gast und hatte sie mit sich genommen.
    »Sie müssen Ihre Frau jetzt loslassen«, sagte eine Krankenschwester mit überraschend viel Mitgefühl in der Stimme. Immerhin sprach sie nicht von
dem Leichnam.
»Sie sollten auch den Rest der Familie verständigen. Gibt es ein bestimmtes Bestattungsinstitut, das Sie, äh, damit betrauen wollen?«
    Fernando schrak auf. Seine Frau? Der Rest der Familie? Oh Gott! Er kritzelte zwei Namen und Orte auf einen Zettel – Laura da Costa in Beja, Paulo da Costa in Lissabon. »Hier, das sind ihre Kinder. Machen Sie sie ausfindig.« Damit rannte er fluchtartig aus dem Zimmer und hinterließ nicht nur eine wunderschöne Tote, sondern auch eine äußerst pikiert dreinblickende Schwester.
    Die Luft, die ihn nach dem reinigenden Gewitter draußen empfing, schien ihn zu verhöhnen. Alles atmete Leben, Frische, Klarheit. Nur Jujú atmete nicht mehr. Und er selber wollte es auch nicht mehr. Dennoch blähten sich seine Nasenflügel, als er, wider Willen und eher reflexartig, tief die Luft einsog, die ihm nach den Dünsten im Hospital reiner erschien als alles, was er in den letzten Jahren eingeatmet hatte. Der Überlebensinstinkt ist stärker als jede Trauer, dachte er unglücklich.
    Er ging zu Fuß nach Hause. Unterwegs quälte er sich mit den Gedanken daran, was nun mit ihr passieren würde. Die Vorstellung, wie man ein Leichentuch über sie legte, machte ihn wahnsinnig. Das Bild von ihr in einem engen, dunklen Kühlfach zerriss ihm das Herz – sie, die immer ihre kalten Füße an seinen Beinen gewärmt hatte! Er malte sich aus, wie später, wenn sie nach alter Sitte zu Hause aufgebahrt werden würde, die Zersetzung ihres Körpers voranschritt, wie man haufenweise Lilien heranschaffte, um den Geruch zu übertünchen, und es ließ ihn vor ohnmächtigem Hass auf die Vergänglichkeit schier verzweifeln. Und schließlich sah er vor seinem geistigen Auge die Beisetzung, sah die Erdklumpen, die auf die Holzdecke des Sarges herabfielen, unter der ihr einst so herrliches Gesicht lag, aus dem nun bald die Würmer kriechen würden.
    Oh Gott! Das war zu viel! Er verschränkte die Arme vor seinem Unterleib, als plagten ihn schreckliche Krämpfe, beugte sich nach vorn, ließ seinen Tränen freien Lauf und stieß ein markerschütterndes Schluchzen aus.
    Weit und breit war keine Menschenseele auf der Straße, und so ging der historische Moment ohne die Gegenwart von Zeugen vorbei. General Fernando Abrantes hatte zum ersten Mal in seinem Leben die Haltung verloren.

[home]
1969 – 1974
    45
    L issabon war gewachsen. Aus der Luft sah Ricardo die Neubausiedlungen, die sich am nördlichen Tejo-Ufer um den Stadtkern herum ausdehnten. Und auf der anderen Seite, der outra banda, würde es sicher bald genauso aussehen. Seit die neue Tejo-Brücke eröffnet worden war – die er ebenfalls aus dem Flugzeug gut sehen konnte, als es nun in den Landeanflug ging –, konnte man den Süden problemlos erreichen, ohne auf den Fährverkehr angewiesen zu sein. Die Ponte Salazar war eine rote Stahlkonstruktion, zwei Kilometer lang und eindeutig der Golden Gate Bridge nachempfunden. Ricardo fand das Original beeindruckender, auch wenn an dessen südlichem Ende kein Cristo Rei schützend seine Arme ausbreitete. Auch Letzterer übrigens eine Kopie des Cristo Redentor in Rio de Janeiro. Eigene Ideen hatte man anscheinend keine in Portugal.
    Er presste seine Stirn an das kleine Flugzeugfenster. Die Sicht war hervorragend. Es war ein trockener und wolkenloser Sommertag. In der Ferne sah er den Atlantik und die weißen Strände, die jetzt bestimmt rappelvoll waren. Vielleicht sollte er sich mal an den Stränden im Süden nach geeigneten Grundstücken umsehen. Die Costa da Caparica würde dank der Brücke boomen. Er klappte das Tischchen vor sich sowie die Sessellehne hoch. Er hielt sich die Nase zu. Beim Druckausgleich knackte es laut in seinen Ohren. Dann hörte er schon, wie das Fahrwerk ausgefahren wurde. In Kürze würden sie landen. Und er

Weitere Kostenlose Bücher