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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Selbst der wäre für seinen entwöhnten Gaumen noch stark genug. Dann bat er eine vertrauenswürdig aussehende Dame am Nebentisch, einen Augenblick auf seinen Koffer aufzupassen, er müsse kurz telefonieren. Die Senhora sah ihn an, als hätte er ihr einen unsittlichen Antrag gemacht, nickte dann aber. Merkwürdig, dachte Ricardo, während er an den Tresen ging und nach einem Telefon fragte, waren die Lisboetas immer schon so misstrauisch gewesen? In Kalifornien hätte man auf seine Bitte mit großer Herzlichkeit und einem breiten Lächeln reagiert.
    Aus dem Kopf wählte er die Nummer. Es klingelte sechs oder sieben Mal, dann hörte er die Stimme seiner Mutter.
    »Alô?«
    »Mãe, ich bin es, Ricardo.«
    »Ricardo, wo steckst du? Wann kommst du endlich heim?«
    »Ich bin praktisch vor deiner Haustür. Ich wollte dich nur nicht … aufwecken oder was weiß ich.«
    »Na, dann beeil dich!«
    »Ich bin in etwa einer halben Stunde da, okay?«
    »Ja,
okay
«, antwortete sie in belustigtem Ton, als sei ihr der Gebrauch des englischen Wortes nicht ganz geheuer.
    Ricardo setzte sich wieder an seinen Tisch, bedankte sich übertrieben höflich bei der Senhora und dachte an das bevorstehende Wiedersehen. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Nachdem er, wiederum mit Dollar, bezahlt hatte, was einen mittleren Aufstand in dem Café verursachte, schnappte er sich den Koffer und ging in die Rua Ivens, die er problemlos wiederfand. Er hatte zwar nie längere Zeit in Lissabon gelebt, doch die gelegentlichen Besuche bei seiner Großmutter waren ihm noch deutlich im Gedächtnis. Nach deren Tod war seine Mutter in Dona Julianas Wohnung gezogen. Er war gespannt, was sie daraus gemacht hatte.
    Das Gebäude sah von außen kaum anders aus als früher. Es war relativ frisch gestrichen, in einem zarten Rosé, was ihm eine freundliche Ausstrahlung verlieh. Durch eine hochherrschaftliche Eingangshalle, die über und über mit antiken Azulejos bedeckt war, erreichte er einen Fahrstuhl mit Ziehharmonikatür, der nicht minder betagt wirkte. Ricardo entschied sich für die Treppe, zumal die Wohnung im ersten Stock lag.
First floor
bezeichnete in den USA das Parterre, dachte er, während er hinaufstieg. Er musste so viele Stufen erklimmen, wie in L.A. zum Erreichen eines
third floor
nötig gewesen wären – dank der extrem hohen Eingangshalle und eines Zwischengeschosses lag die Bel Etage außergewöhnlich hoch. Sein Koffer kam ihm auf einmal sehr schwer vor.
    Als er auf dem Treppenabsatz ankam, sah er seine Mutter schon in der Tür stehen. Sie strahlte über das ganze Gesicht und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Dieser Empfang machte es ihm leicht, seine Verlegenheit ihr gegenüber abzulegen. Sie umarmten sich und gaben sich Küsschen und lächelten einander an. Ach, eigentlich war es gar nicht so schlecht, wieder »daheim« zu sein, wobei hier in Lissabon von Heimat ja kaum die Rede sein konnte.
    »Wie amerikanisch du aussiehst!« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, und sie schien Gefallen an dem zu finden, was sie sah.
    »Und du siehst herrlich unamerikanisch aus,
mãe
. Du siehst super aus.« Das stimmte. Sie war mit ihren zweiundfünfzig Jahren eine atemberaubend schöne Frau. Sie war zierlich und schmal und wirkte zerbrechlich –
petite
würden die Amerikaner sagen und damit eines der wenigen Fremdwörter bemühen, die sie kannten. Sie sah überhaupt nicht danach aus, als hätte sie sich je im Leben mit der Pflege ihres Vorgartens, mit neuen Backrezepten oder der Hypothek für ihr Häuschen im Grünen beschäftigt. Was ja auch zutraf. Sie sah allerdings auch nicht aus wie eine typische reifere portugiesische Senhora, die ihm vorhin, auf der Straße und im Café, alle gedrungen und in ihren dunklen Kleidern freudlos und unattraktiv vorgekommen waren. Sie sah ziemlich genauso aus, wie er seine Großmutter Juliana in Erinnerung hatte, mit ihrer milchweißen Haut und dem kirschrot geschminkten Mund und dem lockigen dunklen Haar, in dem sie allerdings das Grau mit Henna abgetönt zu haben schien. Nur ihre Kleidung war vollkommen anders. Sie trug einen Kaftan und ein paar schwere Halsketten, die ebenfalls orientalischer Provenienz waren. Eine hinreißende Mischung aus vornehmer Dame und Sechziger-Jahre-Bohémienne stand ihm gegenüber.
    Mit der Wohnung hatte sich ein ähnlicher Wandel vollzogen. Während der Parkettboden, die Stuckdecken, der marmorverkleidete Kamin und einige kostbare Möbel von zeitloser Eleganz und Wohlstand zeugten,

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