So weit der Wind uns trägt
anderen beiden Stufen herabgefallen. Doch sie fing sich schnell wieder.
»Ricardo da Costa!«, rief die Postbotin, erschrocken, dass er sich tatsächlich hier aufhielt. »Ist denn das die Möglichkeit? Wie geht’s, wie steht’s?« Ana Maria vermied eine direkte Anrede. Es kam ihr merkwürdig vor, ihn siezen zu müssen, aber ihn zu duzen kam genauso wenig in Frage. Vor ihr stand ein erwachsener Mann, der durchaus nicht danach aussah, als sei mit ihm zu scherzen.
»Dona Ana Maria!« Der junge Mann wirkte erfreut. »Immer noch die Seele und die Stütze der hiesigen Post, was?« Eine solche Leutseligkeit war sie von ihm nicht gewohnt. Früher, als der heranwachsende Junge das Vorbild aller Schulschwänzer im ganzen Landkreis gewesen war, hatte er viel verschlossener gewirkt. Und irgendwie aggressiver. Wobei sein Aussehen noch immer nicht gerade brav war. Er sah sie durchdringend an, wie eine Raubkatze, die ihr nächstes Opfer belauert und kurz davor ist, zum Sprung anzusetzen. Dieser Blick jagte Ana Maria einen kleinen Schrecken ein, den sie jedoch mit einem bewusst fröhlichen Plauderton überspielte.
»Ja, so könnte man wohl sagen. Und selber? In Ferien? Ist ein bisschen still hier geworden, was?«
»Ja, ist ziemlich einsam. Aber das wird sich bestimmt bald ändern. Ich habe vor, mich für länger hier einzurichten.«
»Ach was?« In der Folge löcherte Ana Maria den alten neuen Bewohner der verfallenen Quinta mit unzähligen Fragen. Sie erkundigte sich nach dem Verbleib all der anderen Leute, die hier gewohnt hatten – außer dem von Octávia, die, wie sie selber wusste, in einer Neubausiedlung am Stadtrand wohnte –, wollte Genaueres über Ricardos eigene Familienverhältnisse wissen und wirkte sehr enttäuscht, als er ihr antwortete, dass er weder mit Frau noch mit Kindern hier einzog.
»Aber – wie soll es denn dann hier jemals wieder etwas quirliger zugehen?«
Ricardo hatte eigentlich nicht vorgehabt, sein Vorhaben vorschnell herauszuposaunen. Andererseits würde es sich ohnehin in rasender Geschwindigkeit herumsprechen, wenn er erst mit den entsprechenden Arbeiten loslegte. Und das sollte schon sehr bald der Fall sein. Da konnte er der freundlichen Briefträgerin auch jetzt schon verraten, was er vorhatte.
»Ich gründe eine Flugschule.«
Ihm entging nicht der entgeisterte Ausdruck auf dem länglichen Gesicht der älteren Frau. Ihrer Miene war deutlich anzusehen, was in ihr vorging: Ricardo da Costa, Schulabbrecher und Herumtreiber, musste auf wundersame Art und Weise die Kurve gekriegt haben. Er erkannte ebenfalls deutlich, dass sie vor Neugier schier zu vergehen schien und sich wohl erhoffte, von ihm auf einen Kaffee hereingebeten zu werden.
Aber den Gefallen tat er ihr nicht.
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P
razeres
– Vergnügen, Freuden, Genüsse. Wie konnte man einen Friedhof nur
Cemitério dos Prazeres
nennen? War es vielleicht ein Genuss, einen geliebten Menschen hier zu begraben? War es den Toten eine Freude, hier zu liegen und gar nicht mehr friedlich zu ruhen, seit immer mehr und immer größere Flugzeuge den Friedhof in geringer Höhe überflogen, weil er genau in der Einflugschneise zum Flughafen lag? Hielt man es für ein Vergnügen, von den alten und vielfach verfallenen Grabsteinen oder Mausoleen an die eigene Vergänglichkeit erinnert zu werden?
Fernando schritt den Kiesweg zu Jujús Grab ab, ohne sich nach rechts oder links umzusehen. Die steinernen Denkmäler für die Toten, viele davon umgestürzt oder mit Moos überwuchert, erfüllten ihn mit Hoffnungslosigkeit. War es das, was von einem übrigblieb? Ein Grab, um das sich niemand kümmerte? Ein Name, der auf einer schwarz angelaufenen Metallplakette verewigt war? Fernando glaubte weder an Gott noch an den Himmel oder die Unsterblichkeit der Seele. Wenn es überhaupt ein Leben nach dem Tod geben sollte, dann bestand es seiner Meinung nach darin, dass die Materie, aus der der menschliche Körper bestand, überging in den ewigen Kreislauf der Natur. Ein Leichnam wurde von den Würmern gefressen, die ihrerseits von den Vögeln gefressen wurden, die ihrerseits größeren Tieren zum Opfer fielen. In irgendeiner Form landete man früher oder später wieder bei den Menschen, und sei es nur, weil der Vogelkot die Felder düngte. Die Vorstellung, dass Jujús in diesen Kreislauf übergegangener Körper das Wachstum einer Kartoffel begünstigt haben mochte, fand er grauenhaft. Er litt zunehmend unter Appetitlosigkeit.
Zielstrebig ging Fernando zu dem Grab.
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