So weit der Wind uns trägt
Wand, außerdem baumelte ein primitives Modellflugzeug von der Decke. Ricardo musste lächeln. Dieses plumpe, hässliche Flugzeug war einst sein ganzer Stolz gewesen.
Er ging bis zum Ende des Flurs und zog mit einer Stange die Deckenluke auf, in der eine Schiebeleiter befestigt war. Er stieg bis etwa zur Mitte hinauf, warf einen Blick in das staubige Chaos und stieg kopfschüttelnd wieder hinab. Der Boden musste entrümpelt werden. Aber das hatte Zeit.
Anschließend ging Ricardo in die umgebaute Scheune, in der seine Mutter früher ihr Atelier gehabt hatte. Hier sah es noch einigermaßen zivil aus. Im Gegensatz zu dem Haupthaus waren in dieser Scheune ja auch vor nicht allzu vielen Jahren umfangreiche Reparaturen und Umbauten durchgeführt worden. Er ging zu der kleinen Kochnische, die seine Mutter nie benutzt hatte, weil sie, wenn sie denn einmal zu Hause gewesen war, im Haupthaus mit der Familie gegessen hatte. Er drehte den Wasserhahn auf. Nach längerem Gurgeln und Zischen kam eine braune Brühe heraus. Er ließ das Wasser laufen, während er sich im Badezimmer umsah und dort ebenfalls den Hahn aufdrehte. Neben dem großen Arbeitsraum gab es noch eine davon abgetrennte Schlafkammer. Diese bedurfte, wie der Rest der Scheune, einer intensiven Aufräum- und Reinigungsaktion, war ansonsten aber durchaus bewohnbar. Ricardo drehte alle Wasserhähne wieder zu, nachdem das Wasser klar geworden war. Ja, hier würde er sich fürs Erste einrichten. Es war Wasser da, Strom würde er mit einem Generator selber erzeugen können, bis er wieder ans Netz angeschlossen war, und Möbel sowie ein paar Eimer weißer Farbe waren schnell beschafft.
Zufrieden mit sich und der Aussicht auf die körperliche Arbeit, die er in den kommenden Tagen und Wochen durchführen würde, schritt er anschließend das Gelände rund um das Haus ab. Er würde einen Schrotthändler damit beauftragen müssen, das Gerümpel zu entfernen. Da standen ausrangierte Pflüge herum, wie man sie vielleicht vor fünfzig Jahren benutzt hatte, außerdem eine Rolle verrosteten Zaundrahts, das verbogene Rad eines Kinderfahrrads. Dazwischen lagen einzelne zerbrochene Dachziegel, halb leere und versteinerte Zementsäcke sowie diverse andere Gegenstände, die weder der Witterung noch dem technischen Fortschritt standgehalten hatten. Ricardo bog um die Ecke, um sich ein Gesamtbild über die Verwüstung zu verschaffen. Und was er da plötzlich sah, ließ sein Herz einen Hüpfer machen. Aufgebockt auf ein paar große Bausteine, der Reifen, der Spiegel und der Sitze entledigt, stand da sein heiß geliebter Peugeot Pick-up Baujahr 1943 . Zum ersten Mal, seit er auf Belo Horizonte eingetroffen war, überkam Ricardo ein Gefühl von Heimat.
Das alles hatte sich vor einer Woche zugetragen, und noch immer sah es auf der Quinta keinen Deut besser aus, obwohl Ricardo Tag und Nacht geschuftet hatte. Es war die reinste Sisyphusarbeit. Auf jeden Brocken, den er aufhob und auf einen großen Haufen warf, der irgendwann abtransportiert werden sollte, kamen zwei neue, die er zuvor nicht gesehen hatte. Jeder Mangel, den er entdeckte und zu beheben versuchte, zog weitere Reparaturen nach sich. Dennoch war er guter Dinge. Bei näherer Betrachtung hatten sich Belo Horizonte und insbesondere die dazugehörigen Ländereien als ideal für seine Pläne erwiesen – besser noch, als er es erwartet hatte.
Die einstige Größe des Gutes hatte sich im Laufe der vergangenen sechzig Jahre drastisch verringert. Waren es, wie Ricardo den alten Unterlagen vom Katasteramt entnahm, anno 1910 noch 12 000 Hektar gewesen, die sich im Besitz der Familie Carvalho befunden hatten, so waren die Liegenschaften, die heute Laura da Costa gehörten, »nur« noch rund 2000 Hektar groß. Immer noch ein großer Besitz, und für Ricardos Zwecke absolut ausreichend – trotzdem fragte er sich kopfschüttelnd, wie es diese Familie geschafft hatte, ihren Reichtum so gründlich zu vernichten. Die angrenzende Quinta, die »Herdade do Bom Sucesso«, hatte unter vergleichbaren Bedingungen ihren Besitz jedenfalls bewahren und sogar mehren können – ein großer Teil der einstigen Ländereien der Carvalhos gehörte jetzt Alberto Baião, der damit zum unangefochten größten Grundbesitzer weit und breit geworden war.
Der Niedergang von Belo Horizonte war nur zum Teil auf die Tatsache zurückzuführen, dass Ricardos Urgroßeltern, José und Clementina Carvalho, fünf Töchter gehabt hatten – Mariana, die auf der Quinta
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