So weit der Wind uns trägt
Es war in seiner Einfachheit schön und ergreifend. Insgeheim dankte er dem Ehemann Jujús dafür, dass er sich für einen so schlichten Grabstein entschieden hatte. Wenn Jujú in einem der Gräber gelandet wäre, in denen die versiegelten Särge oberhalb der Erdoberfläche blieben, eingesperrt in eine Grabkammer, die man von außen einsehen konnte, hätte ihn der Anblick in den Wahnsinn getrieben. Wahrscheinlich wäre er dann ähnlich durchgedreht wie einst der König Dom Pedro I., der seine ermordete Geliebte, Inês de Castro, exhumieren und posthum krönen ließ und anschließend den Hof zwang, vor ihr niederzuknien und ihre verweste Hand zu küssen. Fernando war einmal mit Jujú in Alcobaça gewesen, und gemeinsam hatten sie sich beim Anblick der beiden Sarkophage dieses tragischen Liebespaares vor schauriger Faszination geschüttelt.
Immerhin waren Pedro und Inês im Tod vereint. Ihm und Jujú war nicht einmal das vergönnt. Eines Tages würde Rui da Costa an ihrer Seite bestattet werden, der für ihrer beider letzte Ruhestätte offenbar Lissabon seiner einstigen Heimat im Norden vorzog. Natürlich, hier lebten ihre Kinder und Enkel.
Fernando würde seine letzte Ruhestätte neben Elisabete haben. Sie hatte bereits einen Platz für ein pompöses Familiengrab reserviert – gleich neben dem ihrer Eltern. Ach, zwang Fernando sich zur Räson, eigentlich konnte es ihm doch gleichgültig sein. Er glaubte schließlich nicht an ein Leben nach dem Tod, sondern nur an dessen biologische und ökologische Bedeutung. Oder nicht? Vielleicht wäre er eines Tages mit Jujú vereint, im Verdauungstrakt eines Wurms, der später als Köder beim Angeln ein vorzeitiges Ende finden würde.
Reiß dich zusammen, Fernando Abrantes!
Er legte eine Blume nieder und fand einen gewissen Trost darin, dass mindestens eine andere Person offenbar ebenfalls um Jujú trauerte. Es standen, anders als auf vielen benachbarten Gräbern, keine Plastikblumen auf dem Stein, sondern eine Vase mit einem frischen Strauß. Von wem der wohl war? Fernando glaubte nicht, dass Rui da Costa zu einer solchen Geste fähig war. Vielleicht die Tochter, Laura? Hatte sie ihre Mutter mehr geliebt, als sie zu deren Lebzeiten hatte erkennen lassen?
Eine riesige Boeing 747 donnerte über ihn hinweg. Er sah nach oben, betrachtete den Bauch des Ungetüms und fragte sich, ob er jemals in einen solchen Apparat einsteigen würde. Vielleicht als Pilot. Als Passagier auf keinen Fall. Es war irgendwie pervers, was aus der Fliegerei geworden war. Hunderte von Menschen, die auf Gedeih und Verderb dem Können eines Mannes sowie den Unvorhersehbarkeiten des Wetters ausgeliefert waren. Genauso wenig würde er sich je an Bord eines großen Schiffes begeben, wenn er es nicht selber steuern konnte. In der Luft hatten die Menschen ja nicht einmal die trügerische Hoffnung, dass sie sich im Falle eines Unglücks retten konnten. Und wie schnell konnte es zu einem solchen kommen! Er selber hatte erlebt, wie es war, in Luftlöcher zu sacken, der unberechenbaren Thermik über Bergen ausgesetzt zu sein, wegen Blitzeinschlags den Funkkontakt zu verlieren, bei extrem starken Seitenwinden zu landen oder sich gleichzeitig mit weniger souveränen Piloten im Anflug auf einen Platz zu befinden. Es gab unzählige Unwägbarkeiten, und seiner Meinung nach waren Passagierflüge in dieser Größenordnung unverantwortlich.
Fernando merkte, dass ihm der stumme Dialog mit Jujú heute nicht gelingen wollte, und wandte sich ab. Auf dem Weg zum Ausgang verhielt er sich genau wie viele der anderen Spaziergänger. Manchmal blieb er vor einem besonders hübschen Grabstein stehen, um die Arbeit des Steinmetzen zu bewundern, ein Stück weiter genoss er die Aussicht über den Westen der Stadt und die Brücke, die sich über den Tejo spannte. Im Schatten einer großen Zypresse blieb er einen Augenblick stehen. Es war viel zu heiß für die Jahreszeit. Sein Blick fiel auf das Grab einer Luiza Mendes. Hatte so nicht die fürchterliche Hausangestellte von Jujú geheißen? Aber, dachte er im Weitergehen, ein so gewöhnlicher Name mochte in einer Stadt wie Lissabon sicher häufiger vorkommen. Er schüttelte jeden Gedanken an diese Person ab und ging, nunmehr forschen Schrittes, zum Ausgang. Er musste die nächste 34 er Tram bekommen, wenn er noch rechtzeitig zu seinem Anwaltstermin erscheinen wollte.
Auch diese Sache war etwas, was er sich in seinem Alter gern erspart hätte. Blödsinn, »in seinem Alter« – auch
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