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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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konnte die Nöte der Angehörigen sehr gut nachvollziehen. Dann waren da noch diverse Postkarten, eine aus der Schweiz, eine von der italienischen Adria und eine aus London. Ana Maria las sie alle und wunderte sich erneut über die Texte, die einander so stark ähnelten, als hätte einer vom anderen abgeschrieben. Des Weiteren war ein Päckchen aus Lyon in Frankreich dabei, das Cláudia Soares, die dort als Hausangestellte arbeitete, ihren Eltern geschickt hatte, sowie ein dicker Luftpolsterumschlag aus Deutschland, den Hinkebein Eduardo, der dort in einer Automobilfabrik untergekommen war, seiner Schwester schickte. Ana Maria betastete den Umschlag. Es schienen Dokumente darin zu sein. Ob Hinkebein Eduardo seiner Schwester Unterlagen zukommen ließ, damit sie ihm bald folgen konnte? Im Norden Europas suchten sie offenbar so händeringend nach Arbeitskräften, dass sie sogar für einen Krüppel wie Eduardo oder ein dümmliches Trampeltier wie seine Schwester Verwendung zu haben schienen.
    Zwei Sendungen jedoch erregten Ana Marias Interesse mehr als alle zuvor genannten, obwohl sie weder aus dem Ausland kamen noch in irgendeiner Weise bemerkenswert aussahen. Zwei Briefe aus Lissabon, Behördenpost, wie es schien, überkorrekt adressiert an Senhor Ricardo da Costa.
    Ricardo da Costa? Auf Belo Horizonte? Das war ja hoch spannend. Ana Maria beschloss, ihre übliche Route ein wenig abzuändern. Sie würde zuerst nach Belo Horizonte fahren und erst im Anschluss durch die Dörfer zuckeln, was jeglicher Vernunft und kluger Zeiteinteilung widersprach.
    Sie war die Strecke seit einer Ewigkeit nicht mehr gefahren. Und offenbar auch sonst niemand. Auf dem Feldweg, der zu der Quinta führte, stand das Gras kniehoch, und es kratzte und schabte verdächtig unter dem Postwagen, während das arme Auto von oben von herabhängenden Zweigen malträtiert wurde. Doch Ana Maria bewältigte die Strecke ohne größere Zwischenfälle, was sie ihrer umsichtigen Fahrweise sowie ihrer langjährigen Erfahrung mit unwegsamem Gelände, steinigen Sträßchen, überfluteten Niederungen und in der Hitze aufweichenden Teerdecken zuschrieb. Außer Schnee und Glatteis gab es wenig an Straßen- oder Verkehrsverhältnissen, was Ana Maria geschreckt hätte. Und ganz gewiss hatte es in den vergangenen Jahren nichts gegeben, was sie mit einer so unbezwingbaren Neugier erfüllte wie das Zustellen der Post auf diesem verwaisten, furchteinflößenden Anwesen.
     
    Ricardo war der erste Anblick von Belo Horizonte kaum weniger furchteinflößend erschienen, als er vor einer Woche angekommen war. Das Herrenhaus war bereits in desolatem Zustand gewesen, als er noch hier gelebt hatte, doch dass es in so kurzer Zeit – er war nach seinem Einsatz in Angola schließlich nur fünf Jahre fort gewesen, zwei in der Militärakademie bei Leiria, drei in den Staaten – derartig heruntergekommen war, fand er deprimierend. Wenn seine Mutter es schon in ihren Besitz gebracht hatte, hätte sie eigentlich auch die Pflicht gehabt, für seinen Erhalt zu sorgen. Wofür zahlte man Erben aus und erwarb ein Haus, wenn man es verrotten lassen wollte?
    Im Innern roch es abgestanden und staubig. Ricardo stieß eine knarrende Tür nach der anderen auf, beging systematisch alle Räume und fand in jedem davon dieselbe Tristesse und denselben muffigen Geruch vor. Alle verwertbaren Möbel waren mitgenommen oder verkauft worden. Keine Gardinen, Teppiche, Bilder – nichts, was diesem schonungslosen, nackten Elend noch einen Hauch von Würde verliehen hätte. Die Wände waren vergilbt und mit großen bräunlichen Rechtecken verunstaltet, wo einst die Rahmen gehangen hatten. Zwischen den Holzdielen auf dem Fußboden waren zentimeterbreite Spalten, in denen sich Schmutz angesammelt hatte. Wahrscheinlich waren diese Fugen auch vorher schon so breit gewesen, nur hatten Teppiche sie verdeckt. Im Nutztrakt, wo die Böden ganz und die Wände bis in Schulterhöhe gefliest waren, entstellten abgesplitterte Ecken die antiken Azulejos.
    Ricardo stieg die Stufen zum Obergeschoss hinauf, wobei er sehr bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte. Die Treppe machte nicht den Eindruck auf ihn, als hielte sie starker Belastung stand. Die Schlafzimmer sahen ähnlich aus wie die Räume unten. Er öffnete nacheinander die Türen, warf einen kurzen Blick in die verwahrlosten Räume und hielt sich nur in seinem einstigen Schlafzimmer ein paar Sekunden länger auf. Es hing noch ein Poster vom Sonnensystem an der

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