So weit der Wind uns trägt
nicht ganz normal sein.
Sie sollte so sein wie Marisa, außergewöhnlich intelligent und hübsch und anspruchsvoll wie eine Prinzessin. Denn das gefiel ihm an ihr am besten: dass sie trotz ihrer aufgeschlossenen, liberalen Haltung der Auffassung zu sein schien, man habe ihr zu Diensten zu sein, sie rund um die Uhr zu hofieren und sie zu unterhalten, vorzugsweise mit gefälligen Komplimenten über ihren schönen Charakter und ihr hinreißendes Aussehen. Diesen Zug an ihr empfand er als durch und durch feminin, und er fesselte Ricardo mehr als alles andere. Mehr als ihre Grübchen, mehr als ihre nach oben gezogenen Mundwinkel, mehr als die Sommersprossen auf ihren Lidern und mehr sogar als ihre knackigen, BH -befreiten Brüste.
Außerdem war sie so herrlich gnadenlos in ihren Urteilen, ob das nun die Musik betraf, das Essen oder seine Flugschule. Es hatte ihm nicht gefallen, das Opfer ihres Spotts zu sein, aber der Spott an sich gefiel ihm. Eines Tages hätte sie keine Veranlassung mehr, sich über seine Klamotten lustig zu machen oder über seine Kaugummi-Manie, die er sich in den USA angewöhnt hatte. Bis dahin war sie vermutlich über alle Berge.
Aber was blieb ihm anderes übrig, als alle Zeit und alles Geld in sein Vorhaben zu investieren? Jetzt oder nie. Er konnte es sich nicht leisten, das Herrenhaus instand zu setzen, wenn er einen privaten Flugplatz betreiben musste. Auch die neue Garderobe musste warten, bis alles nach Plan lief. Und ausgiebig schlemmen würde er auch erst dann können, wenn das Gröbste hinter ihm lag. Er arbeitete achtzehn Stunden täglich, wie hätte er da noch an ausgedehnte Mittagessen, nette Einkaufsbummel oder entspannende Angelausflüge denken können? Er war es selber gründlich satt, nie eine freie Sekunde zu haben, aber es half ja nichts. Da musste er jetzt durch.
Die Einsamkeit auf Belo Horizonte machte ihm ebenfalls zu schaffen. Jetzt, da der Frühling kam und man demnächst abends draußen sitzen und bei einem Glas Wein den Mondaufgang bewundern konnte, ging es wieder. Aber der Winter war hart gewesen. Zum Herumwerkeln an dem alten Pick-up war es an vielen Tagen zu kalt gewesen, ihm waren die Hände fast an der Zange festgefroren. Also hatte er mutterseelenallein in der scheußlichen Baracke gesessen, hatte nächtelang rechnend und kalkulierend und kopfschüttelnd über den Büchern gehangen. Sogar ihm, der zäh war und kaum Schlaf benötigte, dem seine eigene Gesellschaft meistens angenehmer war als die anderer Leute, war das als trostlos erschienen.
Die Alternativen waren allerdings kaum weniger trist. Ricardo hatte versucht, seine alten Freunde zu kontaktieren, und dabei feststellen müssen, dass Joaquim in Afrika gefallen war. Manuel hatte die dicke Sónia geheiratet und ihr vier Kinder gemacht. Einen Abend hatte er mit der Familie verbracht, hatte mit Manuel Erinnerungen über den gemeinsamen Freund ausgetauscht, hatte sich unterdessen von Sónia mästen und sich von den entsetzlich dummen und hässlichen Kinder piesacken lassen. Er war nie wieder zu ihnen gegangen. Dann hatte er Octávia in ihrer Neubausiedlung besucht, ebenfalls eine Erfahrung, die er nicht zu wiederholen wünschte. Sie hauste zusammen mit fünf Katzen in einer 35 -Quadratmeter-Wohnung, und Ricardo hatte den ganzen Abend die Luft anhalten müssen, weil es durchdringend nach Katzenpisse stank. Er hatte sich nicht getraut, sie zu fragen, warum ihre Kinder sie nicht unterstützten, aber sie hatte ihm die Antwort auch so gegeben: Sílvia lebte mit einem kleinen Beamten und zwei Kindern in Bragança und hatte selber sehr zu knapsen, Xavier war nach verschiedenen Fehlinvestitionen total pleite. Na bravo, dachte Ricardo – wahrscheinlich frohlockte sie schon, dass nun der »reiche Neffe aus Amerika« zu ihrer Rettung herbeigeeilt war.
Ansonsten gab es in der Umgebung nur noch eine weitere Person, die Ricardo gerne sehen wollte, doch diesen Besuch hatte er hinausgezögert. Er kostete ihn einiges an Überwindung. Vielleicht wäre es jetzt, da die Tage länger wurden und seine Laune sich merklich hob, an der Zeit: Denn bei Dona Aldora, der Bibliothekarin, musste er sich unbedingt noch entschuldigen, wenn er sich auf Dauer hier wohl fühlen wollte. Wie blind er damals gewesen war! Die ältere Dame hatte ihn, das wusste er heute, gemocht. Sie hatte ihn auf die einzig mögliche Weise gefördert, nämlich indem sie ihn unter ihre Fittiche genommen hatte, ohne es ihn spüren zu lassen. Sie hatte Bücher für ihn
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