So weit der Wind uns trägt
führten Geschäfte oder ergingen sich in Müßiggang wie eh und je. Es war, als leugnete die höhere Gesellschaft, dass ein Krieg im Gange war. Nur daran, dass bestimmte Delikatessen knapp geworden waren, merkte man, dass außerhalb der Stadt nicht alles zum Besten stand – doch das erhöhte nur die Wertschätzung von Gänsestopfleber oder erlesenen Weinen.
Jujú war bei Ausbruch des Krieges sofort zurück in den Alentejo beordert worden. Sie hatte ihre Abreise aus Frankreich nicht bedauert. Es war eine angenehme Zeit dort gewesen, sie hatte sich in Gesellschaft ihrer Tante Juliana wohl gefühlt, und sie hatte einige neue, interessante Bekanntschaften geschlossen. Dennoch war ihr gesamter Aufenthalt in Paris ihr merkwürdig hohl vorgekommen, als fehle irgendetwas. Was oder wer das sein mochte, hatte Jujú nicht zu sagen gewusst. Ging sie im Kopf alle Menschen durch, die ihr je etwas bedeutet hatten – ihre Eltern, ihre Schwestern und auch Fernando –, so fand sie keinen einzigen davon geeignet, diese Lücke zu schließen. Aus diesem Grund hätte sie auch nicht behaupten können, dass ihre Heimreise sie mit großer Vorfreude erfüllte. Es war ihr völlig egal gewesen, wo sie sich aufhielt.
Das änderte sich schlagartig, als Jujú ihr altes Zimmer auf Belo Horizonte betrat. Erst hier kam ihr deutlich zu Bewusstsein, wie die Zeiten – und sie selber – sich verändert hatten. Die Erkenntnis traf sie vollkommen unvorbereitet, und beinahe wäre sie in Tränen ausgebrochen. Vor Rührung? Vor Melancholie? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie als dummes Mädchen gegangen und als junge Frau zurückgekehrt war.
Der Duft von gestärkter Wäsche, der in der Luft lag, war unverwechselbar – ein Hauch von Lavendel, der sämtliche Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit heraufbeschwor. Gedankenverloren fuhr Jujú mit den Fingern die Linien nach, die sie einst in ihren Schreibtisch geritzt hatte. Zwei ineinander verschlungene Herzen, die krummen Initialen JC auf der einen, FA auf der anderen Seite. Nicht zu fassen, dass sie dafür den kostbaren Sekretär aus Kirschholz ruiniert hatte! An den Wänden hingen Drucke von Blumenzeichnungen, die mit den botanischen Fachwörtern versehen waren. Meine Güte, mit so etwas würde sie ihr Zimmer heute nicht mehr dekorieren. Und auch den Bücherschrank würde sie einmal ordentlich entrümpeln müssen, es standen ja noch Schulhefte von ihr darin! Die Gardinen – üppig gebauschte Stores, darüber ein mit goldenen Fransen verzierter Alptraum in Altrosa – sagten Jujú mittlerweile ebenso wenig zu wie der Orientteppich auf dem Boden oder der Bezug des Sessels in der Fensternische.
Je länger sie sich in dem Raum umsah, desto mehr schwand Jujús diffuse Traurigkeit und machte einem Tatendrang Platz, der nicht minder unerklärlich war. Warum wollte sie hier noch umräumen und umdekorieren, wenn sie doch ohnehin nicht mehr lange hier wohnen würde? Denn eines hatten ihre Eltern ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, kaum dass sie zurückgekehrt war: dass sie möglichst bald heiraten solle.
Es war trotzdem schön, wieder daheim zu sein. Jujú begriff, dass sie all das sehr wohl vermisst und es sich nur nicht eingestanden hatte. Die goldenen Hügel, zwischen denen die rot gedeckten Kirchtürme hervorragten, oder die dicken Oleanderbüsche, die am Wegesrand in einer Pracht blühten, von der Pariser Gärtner nicht einmal zu träumen wagten: Das war ihre Heimat. Und in der war sie tiefer verwurzelt, als es einer höheren Tochter mit internationaler Ausbildung zustehen mochte.
Jujú ging oft spazieren. Viel bewusster als früher nahm sie den staubigen Geruch der Erde wahr, die Geräusche von entfernten Ziegenglocken und nahem Insektengeschwirr, den Anblick der Arbeiter, die die Korkeichen von ihren Rinden befreiten. »Dreißig Jahre alt muss eine Korkeiche werden, bevor man sie erstmals schälen darf. Und dann muss man immer wieder neun Jahre warten bis zur nächsten Ernte.« Die Worte, mit denen Fernando ihr vor langer Zeit erklärt hatte, warum der Kork so kostbar war, klangen ihr noch in den Ohren. Sie hatte das alles schon gewusst, aber nicht gewagt, seine stolze Ansprache zu unterbrechen. In jedem Jahr wurden andere Bäume geschält, so dass es in jedem Wald immer solche gab, die frisch abgeerntet waren und, ihrer schützenden Rinde beraubt, beinahe nackt aussahen, sowie solche, die nach neun Jahren wieder ihre knorrige Hülle trugen, deren die Menschen sie
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