So weit der Wind uns trägt
sich fühlte wie Schlachtvieh. Erste Lektion: Scham oder Intimsphäre existierten nicht im Vokabular des Militärs. Stoisch ließ Fernando die erniedrigende Prozedur über sich ergehen. Er wurde vermessen, gewogen und abgehorcht, man besah sich sein Gebiss und seine Weichteile, er musste alberne Turnübungen sowie Hör- und Sehtests machen. Nach alldem wurde festgestellt, was Fernando auch vorher schon gewusst hatte: Er war in ausgezeichneter körperlicher Verfassung.
Danach kamen die Untersuchungen, mit denen die geistigen Kapazitäten festgestellt werden sollten. Analphabeten wurden von vornherein in die unterste Kategorie eingestuft. Wer halbwegs lesen und schreiben konnte, musste sein Allgemeinwissen sowie seine Kenntnisse in den Grundrechenarten unter Beweis stellen. Die Tests waren so lächerlich einfach, dass Fernando, nachdem er einen Blick auf die Fragen geworfen hatte, sich weigerte, den Prüfungsbogen auszufüllen. Als Mann ohne höheren Schulabschluss hatte er automatisch den für diese Bewerber entwickelten Bogen vorgelegt bekommen, ungeachtet seines wahren Bildungsstandes.
»Ich möchte gern denselben Test machen wie die Männer mit höherer Schule.«
»Tenente.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich bei jeder an mich gerichteten Frage, Bitte oder Äußerung mit meinem Dienstgrad anzusprechen.«
»Jawohl.« Nach kurzem Zögern verbesserte Fernando sich. »Jawohl, Tenente.«
»Also, was wollten Sie mich fragen, Abrantes?«
Fernando wunderte sich über diese Nachfrage. Der Mann hatte doch genau verstanden, was er von ihm wollte. Was für eine Schikane! Vielleicht war das Militär doch nicht das Richtige für Leute wie ihn, der er seit jeher bürokratische Umwege und protokollarische Umständlichkeiten für entbehrlich gehalten hatte. Doch er riss sich zusammen und machte ein zerknirschtes Gesicht.
»Verzeihung, Tenente. Ich habe zwar keine höhere Schule besucht, Tenente, bin jedoch durchaus nicht unwissend. Darf ich den schwierigeren Test ablegen, Tenente?«
»Nein.«
»Darf ich fragen, warum, Tenente?« Fernandos übertriebener Gebrauch der Anrede schien den Tenente selber nicht im Geringsten zu stören.
»Sie machen die Prüfung, die man für Sie vorgesehen hat. Sollten Sie die fehlerfrei bestehen, was ich sehr bezweifle, dann wird in Ausnahmefällen ein weiterer Eignungstest empfohlen.«
»Jawohl, Tenente.« Fernando beugte sich über das Blatt Papier und begann, die kinderleichten Fragen zu beantworten. Er kam sich dabei noch idiotischer vor als beim ewigen »Tenente«-Sagen. Nach wenigen Minuten hatte er alle Fragen beantwortet. Eine einzige davon hatte ihm ein gewisses Unbehagen bereitet. »Welcher glorreiche portugiesische Seefahrer«, hieß es da, »hat als Erster das Kap der Guten Hoffnung umrundet und den Seeweg nach Indien entdeckt? In welchem Jahr vollbrachte er diese Leistung zum Ruhme seines Vaterlandes?«
Fernando wusste, dass er einfach nur »Vasco da Gama« und » 1498 « hätte niederschreiben müssen. Doch es widerstrebte ihm, die unglücklich formulierte Frage so hinzunehmen. Das Kap der Guten Hoffnung war bereits zehn Jahre zuvor von Bartolomeu Dias umsegelt worden, wie jedes Kind in Portugal wusste. Andererseits war ihm bewusst, dass Haarspalterei ihn hier kaum weiterbringen würde. Er entschloss sich, die Flucht nach vorn anzutreten: Anstatt auf den Fehler in der Frage einzugehen, schrieb er eine knappe Abhandlung zu den Pionierleistungen in der portugiesischen Seefahrt (unter besonderer Berücksichtigung der Leistungen Bartolomeu Dias’) und die herausragenden Navigationsfähigkeiten von Vasco da Gama. Hierbei legte er einen Schwerpunkt auf die nautischen Geräte des ausgehenden 15 . Jahrhunderts, ein Thema, mit dem Fernando sich immer schon gern befasst hatte. Hier war er in seinem Element – und konnte den Prüfern zeigen, dass er sehr viel mehr wusste als die Wurzel aus 81 oder die Hauptstadt von Schweden. Trotz der unverlangt langen Antwort gab er seinen Bogen als Erster ab.
Am nächsten Tag bat ihn ein Offizier, der dem Tenente eindeutig übergeordnet und ihm auch intellektuell überlegen war, den schwierigeren Prüfungsbogen auszufüllen.
Dieser Offizier war Ferreira gewesen. Fernando mochte den Mann auf Anhieb. Er war ein umgänglicher Mensch, der nicht sehr viel Wert auf die Einhaltung der hierarchischen Strukturen legte, sondern sich trotz seines hohen Ranges lieber mit intelligenten Untergebenen abgab als mit dummen Gleichrangigen. Dass Fernando in der
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