So weit der Wind uns trägt
Jaime warf Fernando einen Teil der Zeitung zu, wie er es jeden Morgen tat. Sie hatten zwar keine Muße, alle Artikel genüsslich durchzulesen, doch die Zeit reichte, um die Schlagzeilen zu überfliegen und zumindest grob über die großen Ereignisse des Weltgeschehens informiert zu sein. Jaime las immer zuerst den Wirtschafts- und Kulturteil, Fernando das Vermischte aus aller Welt, in dem häufig über neue technische Errungenschaften berichtet wurde. So hielten sie es auch an diesem Morgen.
Eine kleine Notiz erregte Fernandos Aufmerksamkeit. Ford fertige seinen Verkaufsschlager, das Modell T, fortan im Drei-Schicht-Betrieb, hieß es da. Es gebe den Wagen auch nur noch in schwarzer Farbe, da diese am schnellsten trocknete. Fernando schüttelte ungläubig den Kopf. Die Gier der Amerikaner nach Automobilen würde die Welt verändern, so viel stand fest. Er dachte einen flüchtigen Moment lang mit Bedauern an den herrlichen Rolls seines ehemaligen Dienstherrn, den Schielauge João in volltrunkenem Zustand aus der Garage entwendet und gegen einen Baum gefahren hatte. War das wirklich erst zwei Jahre her? So viel hatte sich seitdem geändert.
Fernando sah auf die Uhr, die über der Tür hing. Sieben Uhr 24 . Es blieben ihm noch genau sechs Minuten, bevor er sich auf dem Hof einzufinden hatte. Er sah schnell durchs Fenster, an dem die Regentropfen herunterliefen, und beschloss, ausnahmsweise bis zur letzten Sekunde zu warten. Er faltete ungeschickt die Zeitung zurecht und warf dabei beinahe seine Tasse um. Unkonzentriert überflog er die Titelseite. Die Weltpolitik war nicht unbedingt ein Gebiet, auf dem er glänzte. Die Zeiten waren schon in Portugal turbulent genug, da brauchte er sich nicht noch mit den Problemen von Ländern zu befassen, die jenseits seines Horizontes lagen. Diesmal allerdings las er den Leitartikel ganz durch, angeregt durch dessen marktschreierische Aufmachung: Am Vortag, dem 28 . Juni 1914 , war in Sarajewo ein tödlicher Anschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und dessen Gemahlin verübt worden. Verantwortlich gemacht wurde eine serbische Untergrundgruppe mit dem pathetischen Namen »Schwarze Hand«. Ein mulmiges Gefühl beschlich Fernando, doch er verdrängte es sofort. Was die Habsburger auf dem Balkan trieben, hatte für ihn nun wirklich keine Relevanz.
Nicht einmal der weitsichtigste und weltklügste Mensch konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, welche Kettenreaktion dieses Attentat in Gang setzen würde – und wie viele Millionen Menschenleben es in letzter Konsequenz fordern würde.
6
D ie europäischen Großmächte befanden sich im Krieg. Mit- oder gegeneinander, wer wusste das schon so genau zu sagen? Jeden Tag, so schien es Jujú, wurden neue Allianzen geschlossen, wurden Freunde zu Feinden erklärt und umgekehrt. Über den wievielten Balkankrieg hatten die Zeitungen neulich berichtet? Wer hatte da noch den Durchblick? Doch es gab auch andere Nachrichten, solche, die weniger widersprüchlich waren. Der Panamakanal war eröffnet worden. Ein Erdbeben in den italienischen Abruzzen hatte an einem Tag 30 000 Menschenleben gefordert und die Tuberkulose in Portugal in kaum zwei Jahren nur unwesentlich weniger. Ein gewisser Albert Einstein hatte mit seiner »Allgemeinen Relativitätstheorie« angeblich die Physik revolutioniert, die Frauen in Dänemark hatten das Wahlrecht erhalten. Und der Champagner wurde knapp.
All das hatte Jujú gleichmütig hingenommen. Nicht einmal der Anblick all der Uniformierten, die auf den Straßen von Paris herumliefen, hatte sie sonderlich berührt, geschweige denn sie geängstigt. Zwar hatte sie die Präsenz so vieler junger Männer, die ihr nachpfiffen und sie mit Blicken verschlangen, als anregend empfunden, aber im Grunde war ihr auch das als nebensächlich erschienen. Die Männer spielten Krieg. Für sie persönlich hatte das kaum eine Bedeutung. Sie schämte sich im Stillen für ihre Teilnahmslosigkeit, sah aber in den Gesichtern anderer Frauen, dass sie ähnlich dachten. Die Zahlen, die in den Zeitungen die Verluste beschrieben, blieben anonym, solange kein Verwandter und kein Freund gefallen war. Und Jujú kannte nicht einen einzigen Mann, der überhaupt in diesen Krieg gezogen war.
Portugal hatte sich auf die Seite der Alliierten geschlagen, nahm aber nicht direkt am Krieg teil. Von den französischen Männern, die Jujú in Paris kennengelernt hatte, war ebenfalls nicht ein einziger betroffen. Sie studierten,
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