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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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bald berauben würden. Welcher Baum reif für das Schälen war, erkannte man an der Ziffer, mit der er markiert wurde. Ein Baum etwa, auf dem groß und in weißer Farbe eine » 2 « prangte, war 1912 geschält worden und würde erst 1921 seine Rinde wieder hergeben müssen.
    In Jujús Lieblingshain befanden sich Korkeichen aller Größen und mit allen Ziffern. Die mit der » 6 « waren dieses Jahr fällig. Ihnen die Rinde abzunehmen erforderte großes Geschick und viel Kraft. Die Arbeiter mussten mit einer Axt so in den Kork schlagen, dass er sich in größeren gerundeten Platten vom Baum ablösen ließ, ohne dabei jedoch den Stamm zu verletzen – geschweige denn sich selbst. Es geschahen immer wieder hässliche Unfälle.
    Doch nicht nur ihre Streifzüge durch die heimatliche Landschaft begeisterten Jujú. Erstaunlich fand sie ebenfalls, wie sehr sie die Gesellschaft ihrer Familie genoss. Hatte sie früher ihren Vater und seine autoritäre Art oft als lästig empfunden, so unterhielt sie sich jetzt gern mit ihm. Jedenfalls wenn es nicht zu lange dauerte und sich kein anspruchsvolles Gespräch entspann. Dann nämlich neigte er noch immer dazu, sich als allwissend aufzuspielen und sie wie ein naives Kind abzukanzeln. War ihr früher ihre Mutter als zugeknöpft erschienen, so bewunderte sie heute ihre Haltung. Für eine Frau, die drei Söhne noch als Säuglinge begraben und fünf Töchter aufgezogen hatte, war sie in bewundernswerter Form und hatte um sich herum eine Aura großer Würde errichtet. Die vermeintliche Steifheit interpretierte Jujú jetzt als den Ausdruck von Charakterfestigkeit und Stärke. Sogar Beatriz, zu der sie nie ein inniges Verhältnis gehabt hatte, was wohl an dem Altersunterschied von vier Jahren lag, wirkte auf sie nicht länger wie eine rechthaberische große Schwester, sondern wie eine alte Freundin, mit der sie zahlreiche Gemeinsamkeiten hatte. Warum war ihr früher nie aufgefallen, dass Beatriz und sie die Liebe zu Rosen teilten oder auch die Vorliebe für die Farbe Grün?
    Am schönsten aber war es, Mariana nach einem Jahr endlich wiederzusehen. Sie war zwar, zusammen mit Dona Clementina und Beatriz, zu einem kurzen Besuch nach Paris gekommen, doch da hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, sich auszutauschen. Tante Julianas Wohnung war zu klein, um weitere Gäste aufzunehmen, so dass Jujús Mutter und Schwestern in einem Hotel gewohnt hatten.
    Mariana hatte sich weder äußerlich noch in ihrer Art nennenswert verändert, dabei hatte auch sie ein Jahr im Ausland verbracht. Wenn überhaupt, dann hatte die feuchtkalte englische Luft nur Marianas ohnehin schon feinen Teint noch blasser werden lassen, was ihr überaus gut zu Gesicht stand. Gleich bei Jujús Ankunft bestürmte Mariana sie mit Fragen zu den Männern, zu den mondänen Veranstaltungen und frivolen Vergnügungen, für die Paris berühmt war. Jujú musste sie enttäuschen.
    »Du hast doch bei deinem Besuch gesehen, wie ich dort gelebt habe: immer schön behütet von Tante Juliana, die mit Argusaugen darüber gewacht hat, dass ich nur ja nicht mit den ›falschen‹ Leuten Umgang pflege. Die Kavaliere, die sie für würdig befand, mich auszuführen, waren allesamt Langweiler.«
    »Ach Jujú, tu doch nicht so. Ich kann das nicht glauben. Tante Juliana ist schließlich alles andere als eine Betschwester …« Mariana gluckste leise.
    Diese Einschätzung war nicht ganz von der Hand zu weisen. Jujú hatte ebenfalls den Verdacht, dass Tante Juliana ihr Witwendasein mehr genoss, als sie es nach außen hin zeigte, doch sie ging dabei äußerst diskret vor. Und für Jujús Umgang mit Männern legte sie offenbar gänzlich andere Maßstäbe an.
    »Mag schon sein. Aber die jungen Männer, die sie mir vorgestellt hat, waren wirklich nicht das, was du dir unter heißblütigen französischen Charmeuren vorstellst. Außerdem fanden die Treffen immer in sehr sittsamem Rahmen statt. Von wegen Varietés oder verruchte Spelunken – in deren Nähe bin ich nicht mal gekommen. Stattdessen habe ich in so vielen konservativen Salons mit potenziellen Schwiegermüttern Konversation machen müssen, dass ich jetzt die allergrößte Lust hätte, mal auf ein ganz bescheidenes, fröhliches Dorffest zu gehen.«
    »Ach, Jujú, ich auch! Aber es ist wie verhext: Dieser furchtbare Krieg hat auch hier in Portugal alle Leute in so eine merkwürdige Stimmung versetzt, obwohl wir doch gar nichts damit zu schaffen haben. Die jungen Männer rennen in Scharen zum Militär,

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