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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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unter die Dorfleute zu mischen? Da hatten sie sich umarmt, das wusste er noch. Oder doch im letzten Mai, als er erstmals eigenhändig die Rinde einer Korkeiche abgelöst und Jujú danach stolz seine schwieligen Hände gezeigt hatte? Sie hatte daraufhin die Innenfläche seiner Hände geküsst, und zwar so zärtlich, dass die Botschaft unmissverständlich war.
    Jujú hatte jede Einzelheit jenes Tages, an dem sie Fernando ihre Gefühle für ihn offenbart hatte, noch ganz deutlich vor Augen, und genau jetzt, da sie unter dem Olivenbaum lag und Fernandos noch immer beschleunigten Atem hörte, dachte sie daran. Ein Nachmittag im Spätherbst 1906 : Die Störche flogen in großen Schwärmen Richtung Süden. Auch das Paar, das das Nest auf einem der Schornsteine von Belo Horizonte bewohnte, war schon in sein afrikanisches Winterquartier aufgebrochen. »Sie bleiben ein Leben lang zusammen«, hatte sie gesagt und Fernando dabei tief in die Augen geschaut. »Und jedes Jahr bauen sie an ihrem Nest, bis es ganz groß und ganz stabil ist.« Fernando hatte ihren vielsagenden Blick erwidert und nur geantwortet: »Ja.« Es war die kürzeste und schönste Liebeserklärung, die Jujú sich überhaupt denken konnte.
    Fernando richtete seinen Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellenbogen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er die Uhrzeit auf dem Kirchturm abzulesen, der etwa 500 Meter Luftlinie von ihnen entfernt war.
    »Ist es wirklich schon fast Mittag?«
    »Ich fürchte, ja. Gleich werden wir es ja hören.« Jujú drehte sich auf die Seite, bettete den Kopf auf ihren angewinkelten Arm und musterte Fernandos Gesicht von unten. Wie männlich er geworden war! Sein Kinn war kantig und trug den dunklen Schatten eines Bartwuchses, der für sein Alter schon sehr ausgeprägt war. Seine Haut war, trotz des eben erst zu Ende gegangenen Winters, gebräunt, sein Haar tiefschwarz und glänzend. Jujú sah andächtig auf seinen Adamsapfel, der sich jetzt auf und ab bewegte. Fernando schluckte – und sie wusste bereits, was jetzt kommen würde. Sein Pflichtbewusstsein war wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren.
    »Ich muss los. Meine Mutter regt sich furchtbar auf, wenn ich nicht pünktlich zum Essen erscheine. Und meinem Vater habe ich versprochen, heute nach der undichten Stelle im Dach zu sehen.« Wenn er jetzt nicht ging, würde Fernando nicht länger für sich garantieren können. Abrupt erhob er sich. »Und außerdem kommt heute mein ältester Bruder zu Besuch und stellt uns seine Braut vor.«
    »Ach, Manuel heiratet? Aber er kann doch höchstens … 19 oder 20  Jahre alt sein.« Jujú erinnerte sich vage an den Burschen, der mit Muskelkraft wettmachte, was er an Geistesgaben nicht besaß. Ein stämmiger Kerl, beliebt bei seinen Saufkumpanen, unzuverlässig auf dem Feld. Er war vor einiger Zeit in den Ribatejo gegangen, wo ein entfernter Verwandter ihm Arbeit geben wollte. Hier fand er keine mehr.
    »In
unseren Kreisen
«, Fernandos Ton troff vor Ironie, »ist das ein ganz normales Alter zum Heiraten.« Fernando reagierte immer ungehalten, wenn Jujú ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gab, dass sie die Sitten in der
aldeia
befremdlich fand. In
ihren Kreisen
heirateten die Männer erst, wenn sie ein Studium abgeschlossen und vielleicht sogar eine Weile im Ausland verbracht hatten – von einzelnen Fällen abgesehen, in denen sie früher als geplant heiraten mussten.
    »Ich habe doch gar nichts gesagt«, beschwerte Jujú sich. Dabei wusste sie genau, dass sie es sehr wohl gedacht und nur nicht ausgesprochen hatte. Sie zuckte mit den Schultern. »Na, dann beeil dich am besten. Wenn mich nicht alles täuscht«, damit sah sie zum Kirchturm, »ist es schon fünf vor zwölf.«
    Doch Fernando wollte nicht gehen, solange diese leicht angespannte Stimmung zwischen ihnen herrschte. Er nahm Jujús Hand und zog sie hoch. Schwungvoll kam sie auf die Beine. Sie begann ihre Frisur zu ordnen, aus der sich einige Locken gelöst hatten. Fernando fand sie in diesem Moment unwiderstehlicher denn je. Er zog sie nah zu sich heran, um ihr einen Kuss zu geben, aber Jujú lehnte sich zurück und zwinkerte ihn an.
    »Vier vor zwölf.« Wenn sie erst anfingen, sich zu küssen, würde es ihnen noch schwerer fallen, sich voneinander zu verabschieden.
    Abrupt ließ Fernando sie los und drehte sich um. Er griff nach seinem Hut, den er auf einen Ast des Baums gehängt hatte, schüttelte die
manta
aus, auf der sie es sich bequem gemacht hatten, und stapfte davon. Er

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