So weit der Wind uns trägt
Jahren in Fernando verschossen gewesen waren, sagte sich Maria da Conceição. Dennoch tat es ihr in der Seele weh, ihn vor dieser missgünstigen Krähe nicht in Schutz nehmen zu können. Was hätte sie denn antworten sollen? Die Wahrheit war zu beschämend, als dass sie sie irgendjemandem auf der Welt hätte offenbaren können.
Er wollte mich ja zu sich holen, doch ich habe abgelehnt, weil ich lieber auf Belo Horizonte bleiben wollte. Denn nur hier habe ich überhaupt eine Chance, ab und zu Edmundo zu begegnen …
Während Beatriz ihre Verbitterung über ihr Schicksal deutlich anzusehen war, wirkte Maria da Conceição überhaupt nicht wie jemand, an dem seit Jahren eine unerwiderte Liebe nagte. Sie sah nicht aus wie eine Frau von Anfang dreißig, sondern hatte ihre mädchenhafte Ausstrahlung behalten. Seit ihre religiöse Verbohrtheit sich in ein normales Maß an Glauben verwandelt hatte, was etwa zu dem Zeitpunkt passierte, als sie sich in Edmundo verliebte, hatte auch ihre Miene den fanatischen Ausdruck verloren. Maria da Conceição war auffallend hübsch, und alle fragten sich, wieso eine solche Schönheit unverheiratet geblieben war.
Es war Maria da Conceição nicht schwergefallen, für einen höheren Lohn und bessere Lebensbedingungen die Stellung beim Padre aufzugeben. Hier hatte sie Leben um sich, wurde von den Kindern vergöttert und von den Erwachsenen anständig behandelt, bekam die herrlichsten Sachen zu essen und Dona Marianas abgelegte Kleider geschenkt. Einzig die Frau des Schusters, Dona Cristina, hatte geunkt, dass ein so hübsches Ding auf Belo Horizonte nichts verloren hätte, wo doch jeder wusste, was der Patrão für ein schlimmer Schürzenjäger war. Dona Cristinas Sorgen erwiesen sich als unberechtigt. Maria da Conceição war viel zu zart gebaut und zu flachbrüstig, um die Aufmerksamkeit des alten Herrn zu erregen. Gelegentlich ertappte sie allerdings den jungen Herrn, Senhor Octávio, dabei, dass er sie anglotzte. Was hätte sie dafür gegeben, wenn er sein Bruder wäre!
Octávio lag nichts ferner, als anderen Frauen nachzusteigen. Er liebte seine Mariana von ganzem Herzen – wobei sein Herz auch nicht mehr das war, was es mal gewesen war. Es klopfte zuweilen in einem unregelmäßigen Takt, es flatterte, um dann ein paar Schläge auszusetzen, oder es pochte so schwer und dumpf in seiner Brust, dass er, wenn er an sich herabblickte, die Schläge zählen konnte. Doch wem hätte er davon erzählen können? Mariana hätte einen fürchterlichen Wirbel veranstaltet und sämtliche Experten aus Lissabon kommen lassen, was nicht nur Octávios Geduld, sondern auch seinen Geldbeutel übermäßig strapaziert hätte. Seinen eigenen Eltern oder seinem Bruder mochte er sich ebenso wenig anvertrauen. Sie hätten sich Sorgen um ihn gemacht und versucht, der Ursache auf den Grund zu gehen. Vielleicht hätten sie ihm geraten, sich gesünder zu ernähren – was entschieden nicht in Frage kam, denn ohne Butterkekse oder Räucherwürste hätte er wahrscheinlich noch schlimmere Beschwerden. Vielleicht hätten sie, die ihn so gut kannten und um seine sensible Seele wussten, ihm empfohlen, sich nicht alles so zu Herzen zu nehmen. Aber so etwas war viel leichter gesagt als getan. Anders als in jüngeren Jahren litt er nun nicht mehr so stark unter dem Unglück auf der Welt, wie es die Hungersnöte in den Kolonien oder der Grauen des Großen Krieges darstellte. Nein, was ihm wirklich zusetzte, war seine angeheiratete Verwandtschaft: Dona Clementina, die ihn für den hoffnungslosen Zustand von Belo Horizonte verantwortlich machte; Beatriz, die ihm permanent zu verstehen gab, dass sie ihm beim Kopfrechnen wie beim Autofahren überlegen war; Senhor José, der ihn ganz offensichtlich für eine Memme hielt und ihn drangsalierte, wo er nur konnte; und sogar seine geliebte Mariana, die er nicht wissen lassen wollte, in welcher finanziellen Lage sie sich befanden, und der er darum das neue Auto hatte kaufen müssen. Einzig seine Töchter waren ihm der reinste Quell der Freude.
Laura beneidete ihre Cousinen ein wenig um diesen dicken, gemütlichen Vater. Sosehr sie ihren eigenen Papá liebte – etwas mehr von der Gutmütigkeit ihres Onkels hätte er ruhig haben können.
Tio
Octávio störte sich nicht an schmutzigen Schuhen, wenn er seine Töchter auf den Schoß nahm, genauso wenig wie ihn bekleckerte Kleider interessierten oder sich auflösende Zöpfe, fehlerhaft aufgesagte Zahlen von eins bis fünfzig
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