So weit der Wind uns trägt
wie eine Mischung aus Märchenschloss, Puppenstube und Spukhaus. Laura hätte sich tagelang damit beschäftigen können, das Haus und die Nutzgebäude zu erkunden. Jeder Winkel versprach eine aufregende Entdeckung. Hinter jeder Tür schien sich ein Geist zu verbergen. Und in jeder Ecke sah es so aus, als lauerte dahinter ein Geheimnis.
Ganz ähnlich empfand auch ihre Mutter, wenngleich die Art von Geheimnis, deren Gegenwart sie hier spürte, völlig anderer Natur war.
Zunächst war Jujú nur entsetzt gewesen von dem Zustand des Hauses. Wie hatte Dona Clementina zulassen können, dass Belo Horizonte so verkam? Und wie war es Mariana gelungen, dem Haus in kürzester Zeit ihren Stempel aufzudrücken? Plüsch und Plunder, wohin man nur blickte! Dann aber, am Abend ihrer Ankunft, bemerkte sie etwas, was sie wesentlich mehr beunruhigte. Man sah es nicht, und doch meinte Jujú, es mit Händen greifen zu können: eine von Heimlichkeiten getränkte Atmosphäre, die sich unter der Oberfläche des quirligen, fröhlichen, bunten und chaotischen Haushaltes verbarg. Es war, als hätte jeder Einzelne den Ehrgeiz entwickelt, mit Lautstärke über seine Sprachlosigkeit hinwegzutäuschen, mit hektischer Aktivität von seinen Sorgen abzulenken, mit Unordnung das Ambiente seiner Seelenlage anzugleichen. Jeder hier im Haus schien ein Geheimnis mit sich herumzutragen. Allein der Wandel, der sich mit ihrer Mutter vollzogen hatte, die anscheinend gleichgültig den Verfall des Hauses hinnahm. Oder das duckmäuserische Verhalten ihres Schwagers Octávio. Dann das Böse-Tante-Gehabe von Beatriz. Gar nicht erst zu sprechen von dem manchmal sehr abwesenden, müden Blick ihres Vaters. Oder war nur ihre eigene Wahrnehmung getrübt? Ja, das musste es sein. All die Dinge, die Jujú vor den anderen zu verbergen suchte – ihre verpfuschte Ehe, ihr Wiedersehen mit Fernando, ihre Gewissensnöte –, waren bestimmt die Ursache dafür, dass sie bei anderen ähnliche Abgründe vermutete. Früher jedenfalls hatte sie auf Belo Horizonte nie das Gefühl gehabt, dass seine Bewohner voller Geheimnisse steckten. Warum sollte es plötzlich anders sein?
Aber Jujú hatte sich nicht getäuscht.
Dona Clementina litt darunter, allzu sorglos mit dem Familienvermögen umgegangen zu sein. Außer Octávio und ihrem Mann, dessen Mitschuld nicht gering war, wusste niemand davon. Doch die äußeren Anzeichen sprachen für sich. Warum wohl war Belo Horionte so verwahrlost? Wieso hatten sie seit Jahren kein großes Fest mehr gegeben? Und warum trug sie dasselbe Kleid nun in der dritten Saison, anstatt sich, wie es sich für die Frau des Patrão gehörte, alljährlich neu einzukleiden? Weil sie auf den Rat eines Bekannten gehört und sehr viel Geld in ein riskantes Projekt in Mosambik investiert hatten, das grandios gescheitert war. Erschwerend kam hinzu, dass ihre Währung – Dona Clementina hatte sich noch immer nicht an den Escudo gewöhnt und rechnete weiterhin in Réis – sehr instabil war. Das bisschen, was ihnen nach der unglücklichen Spekulation geblieben war, war heute kaum das Papier wert, auf das es gedruckt war. Und ihr unfähiger Schwiegersohn Octávio? Der brachte es erst recht nicht zustande, Belo Horizonte wieder zu dem zu machen, was es einmal gewesen war. Wie auch, ohne Geld? Sein vermeintlich immens hoher Anteil am elterlichen Erbe, das sie ihm durch Schenkungen bereits zum größten Teil übertragen hatten, bestand lediglich aus einigen abgelegenen und ertragsarmen Ländereien in den Kolonien, die er sich weigerte zu verkaufen. Dona Clementina hatte gekämpft, getobt und geschimpft – bis Octávio schließlich aufgemuckt hatte: »Dona Clementina, bitte vergessen Sie nicht, dass nicht ich es war, der das Carvalho-Vermögen so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat. Und bitte hören Sie auf, mich vom Sinn irgendwelcher Grundstücksverkäufe überzeugen zu wollen. Ihr geschäftliches Gespür ist vielleicht, äh … nicht so ausgeprägt, wie Sie es sich einreden.« Octávio war zwar rot geworden angesichts der Gewagtheit dieser Äußerung, doch sein Ziel hatte er erreicht. Mit diesem Tag setzte Dona Clementinas langsame Kapitulation ein.
Es war das erste Mal, dass José Carvalho so etwas wie Respekt für seinen Schwiegersohn empfand. Ihm selber waren die Eigenmächtigkeiten seiner Frau schon lange ein Dorn im Auge gewesen, aber nachdem sie von seiner Liaison mit der Wirtin des »Pescador« erfahren hatte, einer drallen und
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