So weit der Wind uns trägt
nicht mehr für sie zu empfinden als für eine x-beliebige Bekannte. Andererseits: Wenn ihm nichts an ihr lag, wieso traf er sie dann? Und wenn er ihre Beziehung nur als unschuldige alte Freundschaft betrachtete, warum hatte er dann nie dafür gesorgt, dass Jujú und seine Frau einander kennenlernten?
Sie nahmen an einem Fenstertisch in der »Pastelaria Suiça« Platz. Fernando setzte sich über Eck neben sie – anders als sonst, da er immer den gegenüberliegenden Platz gewählt hatte. Das war vielversprechend.
Sie bestellten je einen
galão
, einen Milchkaffee.
»Geht es deinem Jungen gut?«, fragte er als Erstes, nachdem der Kellner fort war.
Es würde wieder so werden wie immer. Jujú hätte vor Enttäuschung schreien mögen. Stattdessen gab sie Fernando eine Antwort, die sie bei den vorigen Treffen wahrscheinlich in genau demselben Wortlaut auch schon gegeben hatte.
»Ja, Paulinho hält sich wacker. Er ist sehr tapfer.« Das war eine Lüge. Ihr Sohn litt unter seiner Krankheit, und er zeigte es auch deutlich. Aber es ging weder Fernando noch sonst irgendjemanden etwas an, wie schwach der Junge war – körperlich wie psychisch.
»Und deine Tochter, ist sie noch immer so ein Schreihals?«, fragte sie.
»Nein, das hat gottlob aufgehört.« Fernando dachte nicht im Traum daran, Jujú zu erzählen, was für eine Nervensäge seine Erstgeborene war. Und wie hässlich sie war! Das arme Kind hatte von allen Seiten nur das Unvorteilhafteste geerbt, von den Abrantes’ den dichten Haarwuchs, von den Almeidas die niedrige Stirn. Sie sah aus wie ein Äffchen, aber Elisabete behauptete steif und fest, das würde sich legen.
»Gut, gut.« Jujú war der Nachwuchs von Fernando vollkommen egal. Einzig über dessen Zustandekommen hatte sie sich geärgert. Die Vorstellung, dass Fernando mit einer anderen Frau schlief, trieb sie schier in den Wahnsinn. Sie verdrängte den unschönen Gedanken sofort wieder und besann sich auf die Gegenwart. Als Nächstes würde Fernando sie nach ihrer Familie auf Belo Horizonte fragen.
»Und, wie geht es deinen Eltern?«
Jujú schwieg ein paar Sekunden zu lang. Anstatt, wie üblich, »ausgezeichnet« zu sagen, ließ sie einen kunstvollen Rauchkringel aus ihrem Mund entweichen und suchte Fernandos Blick. Er hatte seine Augen auf den Schaum in seiner Kaffeetasse gerichtet, sah jedoch auf, als er nicht sofort eine Antwort erhielt.
»Sie sind bankrott.«
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Er senkte den Blick erneut, als schien der sich auflösende Milchschaum ihn wirklich zu fesseln.
»Ach Fernando, lass uns aufhören, einander etwas vorzumachen. Meinen Eltern geht es nicht gut, meinem Sohn nicht und mir am allerwenigsten.«
Sie hatte es ausgesprochen. Endlich hatte sie es gewagt, einmal die Wahrheit zu sagen und den ewigen Kreislauf aus Heuchelei und Lügen zu stoppen.
»Das tut mir leid.«
»Braucht es nicht. Du kannst ja nichts dafür.
Mir
tut es leid.«
»Um dich?«
»Nein, um uns.«
Er sah abrupt auf. Endlich hatte sie ihn erreicht, war etwas von dem, was ihr auf dem Herzen lag, zu ihm vorgedrungen. Das Schweigen zwischen ihnen war dichter als der Rauch, der von Jujús Zigarette im Aschenbecher aufstieg. Sie wusste seinen Blick nicht zu deuten – es stand ebenso Mordlust darin wie Begierde, Hartherzigkeit wie Mitgefühl. Jujú hielt diesem Blick nicht stand. Ungeschickt drückte sie ihre Zigarette aus.
»Da gibt es nichts, was du bereuen müsstest. Im Nachhinein bin ich sogar froh, dass wir damals nicht geheiratet haben. Meine Güte, ich wäre jetzt noch immer Verwalter auf Belo Horizonte.«
»Warst du denn nicht … verletzt?«
Und ob er das gewesen war! Aber das würde er ihr niemals offenbaren. Genauso wenig würde er ihr jemals wieder seine Liebe gestehen – das gäbe ihr viel zu viel Macht über ihn. »Ein bisschen beleidigt war ich schon«, sagte er, »aber ich war im Krieg, da hatte ich andere Sorgen. Und so eine Jugendliebe kann man ja nicht wirklich ernst nehmen, oder?«
Wenn sie ihm jetzt beipflichten würde, wäre alles verloren. Für immer.
»Nicht wirklich«, hörte sie sich selber wie aus weiter Entfernung sagen.
Er starrte sie durchdringend an.
»Trotzdem denke ich oft daran, wie es gewesen wäre, wenn …«
»Ja?«
»Wenn alles anders gekommen wäre.«
»Es hat keinen Sinn zurückzublicken, Jujú. Man übersieht sonst zu leicht, was vor einem liegt.«
Was sollte das nun wieder heißen? Was lag denn vor ihr, außer einer Zukunft
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