So weit der Wind uns trägt
Problem zu stellen war ihm schon immer leichter gefallen, als einfach dazustehen, sich von wildfremden Menschen die Hand schütteln zu lassen und sich Beileidsbekundungen anzuhören.
»General Abrantes, ich, äh, wir …«
»Ich übernehme die volle Verantwortung. Ich habe bereits Lissabon verständigt und denke, dass mein Bruder Ihnen bald wieder übergeben wird.«
Dem Polizisten fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. »Gut. Sehr gut. Dann … behellige ich Sie jetzt nicht weiter mit dem Vorfall. An einem so traurigen Tag. Mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke, Sergente.«
Kurz darauf kam Maria da Conceição zu ihm.
»Ich kenne kaum jemanden von diesen Leuten. Und es geht mir ziemlich schlecht. Mein Fieber ist bestimmt wieder gestiegen. Ich denke, ich gehe jetzt besser.«
»Du willst schon nach Hause fahren?« Es kam Fernando merkwürdig vor, von Belo Horizonte als Conceiçãos Zuhause zu sprechen.
Sie nickte müde.
»Nein, leg dich in Sebastiãos Wohnung ein wenig hin. Ich begleite dich. Wir müssen nachsehen, ob es dort Gegenstände gibt, die wir zur Erinnerung an Mamã behalten wollen. Wenn nicht, bestelle ich einen Entrümpler.«
Maria da Conceição war empört über Fernandos Mangel an Feingefühl. Man konnte doch nicht am Tag der Beerdigung die Hinterlassenschaft des Verstorbenen sichten! Ihr Bruder sah ihr offenbar an, was in ihr vorging.
»Für Sentimentalitäten haben wir keine Zeit. Willst du etwa noch einmal hierherkommen, wenn es dir bessergeht? Deinen freien Tag für eine so unerfreuliche Pflicht opfern?«
Er hatte natürlich recht. Maria da Conceição nickte schicksalsergeben.
Unauffällig verließen sie das Café, in dem sich die meisten Leute gar nicht schlecht zu amüsieren schienen.
In der Wohnung empfing sie der Geruch von Kernseife und kaltem Ruß. Conceição ließ sich kraftlos auf das Sofa in der Stube fallen, während Fernando ihr einen Tee kochte. Als er ihn ihr brachte, weinte seine Schwester stumm. Sie nahm einen Schluck, bevor sie mit tränenerstickter Stimme sagte: »Vier erwachsene Kinder, sieben Enkelkinder – und fast nur Fremde bei der Beerdigung.«
Was hätte er ihr zum Trost sagen sollen? Fernando hatte es ja ähnlich empfunden. »Für sie waren es keine Fremden. Und im Himmel sieht sie bestimmt, dass Manuel und Sebastião in Gedanken bei ihr waren – das ist doch das Wichtigste.« Er glaubte selber nicht an das, was er sagte, weder an den Himmel noch daran, dass seine Brüder im Geiste bei der Mutter waren. Genauso wenig wie seine Frau und seine kleinen Kinder, die ihre Großmutter kaum je gesehen hatten.
»Bleib du hier sitzen«, forderte Fernando seine Schwester auf, »ich sehe mal nach, ob in ihrer Kammer irgendetwas ist, das wir als Erinnerung behalten möchten.«
»Nein, ich komme mit.« Maria da Conceição wusste, dass ihr Bruder sie niemals übervorteilt hätte. Aber sie wusste auch, dass er ein abgegriffenes Gebetbuch, ein fadenscheiniges, selbstbesticktes Taschentuch oder den getrockneten Blumenstrauß, die ihr viel bedeutet hätten, als nutzloses Gerümpel betrachten würde.
Die Kammer war makellos sauber und aufgeräumt. Fernando sah sich darin um, doch weder von den Möbeln noch von den dekorativen Dingen – eine kleine Holzfigur der Heiligen Muttergottes von Fátima auf einem wackligen Regal, selbst gehäkelte Gardinen an den Fenstern – mochte er irgendetwas als Andenken behalten. Er öffnete die Schublade eines schlichten Holztisches, der in der Ecke stand. Es befanden sich einige wenige Schmuckstücke darin, die absolut wertlos waren. Fast war es Fernando peinlich, als er bemerkte: »Sie hätte gewollt, dass du ihren Schmuck bekommst.«
Er verließ die Kammer wieder und überließ es Maria da Conceição, die Habseligkeiten von Dona Gertrudes zu sichten. Er setzte sich aufs Sofa und schlürfte geistesabwesend an dem Tee seiner Schwester. Auch hier war nichts, aber auch gar nichts, was er hätte haben wollen. Wahrscheinlich würde nicht einmal ein Entrümpler hier fündig werden. Der billige Druck eines alten Meisters an der Wand, der durchgelaufene Teppich – wer würde so etwas noch haben wollen? Oder dieser verbogene, löchrige Korb, aus dem zwei Stricknadeln herauslugten?
Fernando stand auf, um sich den Inhalt des Korbes aus der Nähe anzusehen. Er kannte sich mit Handarbeiten überhaupt nicht aus, aber was er sah, war ganz ohne Zweifel ein fast vollendeter Strampelanzug für ein Neugeborenes. Für
sein
Kind, das dieser Tage zur
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