So weit der Wind uns trägt
frommes Geschwätz anhören müssen. Und
er
war es auch, der heute einmal seinen klugen Bruder austricksen und sich dem Zugriff der Behörden entziehen würde. Für immer.
Zu verlieren hatte Sebastião nichts. Er hatte keine Kinder – nicht einmal dazu hatte seine Frau, Rosa, getaugt. Und ihrer war er sowieso überdrüssig. Seine Geschwister konnten ihm gestohlen bleiben. Die wenigen Männer, die er seine Freunde nannte, ebenfalls. Und seine Heimat? Portugal ging den Bach hinunter, das sah doch jedes Kind! Er würde so schnell keine Arbeit finden, und jetzt, da er vorbestraft war, schon gar nicht. Eigentlich hatte er auch gar keine Lust, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Die Jahre bei Senhor Rodrigo, in denen er als »Assistent« der tödlich monotonen Beschäftigung als besserer Lehrjunge nachgegangen war, reichten ihm vollauf. Nie wieder, schwor Sebastião sich, würde er sich dermaßen erniedrigen lassen.
In Brasilien dagegen hatten Männer wie er, echte Männer, noch die Möglichkeit, zu Geld zu kommen. Das Land war riesig und voller Bodenschätze. Da wurden mutige und zähe Burschen gebraucht, die weder vor klimatischen Extremen noch vor Giftspinnen, feindseligen Indianerstämmen oder rechtswidrigen Handlungen zurückschreckten. Ja, dort würde er sein Glück machen, und dank der Kontakte eines alten Freundes hatte er sogar schon die Überfahrt geregelt – an Bord eines Frachtschiffes, auf dem er zu unqualifizierten, das heißt niederen, Arbeiten herangezogen würde. Nun gut, die zwei Wochen würde er auch noch überstehen. Und dann: Freiheit! Kokospalmen! Halbnackte Mulattinnen!
Nun musste er nur noch Fernando entwischen. Und zwar jetzt oder nie.
Sebastião wusch sich, zog den Anzug an und begab sich dann, immerzu unter Beobachtung von Fernando, auf das Klosett im Treppenhaus.
»Aber dort wirst du jetzt nicht mit hineinkommen wollen, oder?« Sein Ton troff vor Sarkasmus.
Allerdings nicht – Fernando bezweifelte, dass sein Bruder es, wenn er tatsächlich durch das kleine Fenster aus dem Haus klettern sollte, weit schaffen würde. Ohne Geld und ohne Papiere hatte Sebastião nicht den Hauch einer Chance.
Doch darin täuschte Fernando sich. Sein Bruder hatte im Wasserkasten über der Toilette einen Teil des gestohlenen Geldes deponiert. Außerdem hatte er eine erkleckliche Summe dafür ausgegeben, dass der brasilianische Kapitän des Frachters keine Fragen stellen und ihn illegal ins Land schleusen würde. Und er sah in dem Beerdigungsanzug recht respektabel aus, so dass er es unauffällig bis zum Hafen in Lissabon schaffen konnte. Ha, Fernando hatte ihm unfreiwillig Schützenhilfe geleistet – was für ein Witz des Schicksals!
Als die Witwe Carneiro aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock des Hauses sah, glaubte sie, einer Sinnestäuschung zu unterliegen. War der Schuft von unten nicht hinter Gittern? Wieso kletterte er dann am helllichten Tag am Wasserrohr hinab in den Hinterhof? Sie rief seinen Namen, erhielt aber keine Antwort. Sebastião schlüpfte durch das Gatter zum Hof des Nachbarhauses und bewegte sich dabei flinker, als er es je bei der Arbeit getan hatte.
Die Beerdigung war weniger deprimierend, als Fernando es vermutet hatte. Das Wetter war freundlich, die Rede des Padres einfühlsam, das Grab mit Blumen und Kränzen bedeckt. Es waren an die fünfzig Leute gekommen – in den Jahren, in denen sie in Évora gelebt hatte, schien seine Mutter viele neue Freunde gewonnen zu haben. Sein anderer Bruder, der in Angola lebte, hatte es nicht hierher geschafft. Auch Elisabete hatte nicht kommen können – ihre Schwangerschaft war zu weit fortgeschritten, als dass sie die Reise hätte wagen wollen. Aber immerhin hatte seine Schwester es sich trotz ihrer Grippe nicht nehmen lassen, Dona Gertrudes das letzte Geleit zu geben. Maria da Conceição sah allerdings ziemlich mitgenommen aus: Zu ihrer Krankheit und der Trauer um die Mutter hatte sich noch die Wut über Sebastiãos Verschwinden gesellt.
Er hatte es wirklich getan! Am Tag der Beerdigung ihrer Mutter! Fernando war fassungslos angesichts dieser Dreistigkeit und dieses Frevels. Doch er zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber. Er war sofort zur Wache geeilt, hatte von der Flucht berichtet und war sich ziemlich sicher, dass sein Bruder noch im Laufe des heutigen Tages aufgegriffen werden würde. Falls das nicht der Fall sein würde, so hatte Fernando sich gesagt, konnte er sich auch später noch Gedanken darüber
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