So weit der Wind uns trägt
machen, welche Auswirkungen das auf seine eigene Karriere haben mochte. Jetzt würde er sich ausschließlich mit dem Gedenken an seine Mutter befassen.
Doch kaum dachte Fernando an eine besonders erinnerungswürdige Situation zurück, an eine liebevolle Geste oder ein zärtliches Wort seiner Mutter, legte sich das Bild von Jujú darüber. Der Tag, an dem Dona Gertrudes zu Tränen gerührt war, dass Fernando einen ganzen Schinken mit nach Hause gebracht hatte? Es war derselbe, an dem er mit Jujú händchenhaltend in der Vorratskammer auf Belo Horizonte gekauert und sich gefürchtet hatte, von der Köchin erwischt zu werden. Die Sonntagsmesse, bei der seine Mutter ihm das Bildchen des heiligen António zugesteckt hatte, das ihr äußerst kostbar war? War dieselbe, bei der er, höchstens zwölfjährig, wie gebannt auf den rosafarbenen Hut des Mädchens in der ersten Reihe gestarrt hatte, das ihm zuvor geschworen hatte, den verhassten neuen Hut nie im Leben aufzusetzen. Und der Aschermittwoch des Jahres 1916 , an dem seine Mutter ihm vor der Rückkehr in die Kaserne die selbst gestrickten Handschuhe geschenkt hatte, die ihm im Flugzeug absolut nutzlos waren, weil nur Leder die kalte Luft effizient abhielt? War der Tag, an dem er Jujú für lange Zeit zum letzten Mal gesehen hatte.
Das Bild von ihr, wie sie unter der Korkeiche herumhüpfte und ihre Beine ausschüttelte, hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Es hatte so kindlich und unbeschwert gewirkt, dieses Gezappel, welches sie ihm später damit erklärt hatte, dass ihr vom langen Warten im Schneidersitz die Beine eingeschlafen waren. Es war ein lustiger Tanz gewesen, den sie da aufgeführt hatte, und er hatte in völligem Widerspruch zu ihrer Aufmachung gestanden, die bewusst damenhaft war: ein dem Feiertag angemessenes, hochgeschlossenes Kleid, das Haar zu einem sittsamen Knoten aufgesteckt, die hübschen Fesseln in schwarzen Schnürstiefeln verborgen.
Es lagen Welten zwischen dieser Jujú von früher und derjenigen, die er in Lissabon wiedergetroffen hatte. Nicht nur äußerlich. Fernando konnte sich nicht vorstellen, dass Jujú heute irgendwo im Schneidersitz saß, nicht einmal allein im heimischen Garten oder auf ihrem Bett. Genauso wenig glaubte er, dass sie heute noch dasselbe herzerfrischende Lachen von früher hatte. Lachen konnte man verlernen, das wusste er aus eigener schmerzhafter Erfahrung. Bei ihren verschiedenen Begegnungen in jüngerer Zeit hatte Jujú nie, nicht ein einziges Mal, laut gelacht. Sie hatte ihn bestenfalls mit einem sphinxenhaften Lächeln bedacht, das wirkte, als hätte sie es jahrelang einstudiert. Oh, es stand ihr ausgezeichnet zu Gesicht – es verlieh ihr genau jenen Ausdruck von Dramatik, wie er derzeit in Mode zu sein schien –, aber es wollte so gar nicht zu der Jujú passen, die er geliebt hatte. Noch liebte.
»… und des Heiligen Geistes«, hörte er den Padre sagen.
»Amen«, fiel die Trauergemeinde mit ein.
Fernando merkte, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren. Er trat an das Grab und warf eine weiße Rose auf den Sargdeckel. Das dumpfe Geräusch, als die Blume auf das Holz traf, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er trat zurück in die Reihe. Nachdem Maria da Conceição mit einem herzzerreißenden Schluchzer ihre Blume ebenfalls in das Grab geworfen und sich wieder neben ihn gestellt hatte, ergriff er ihre Hand, weniger, um seiner Schwester Trost zu spenden, als vielmehr, um sich selber daran zu erinnern, wo und zu welchem traurigen Anlass er sich hier befand.
Himmel, er war kaum besser als Sebastião! Spielte es eine Rolle, ob man physisch oder nur geistig abwesend war? Und war Ehebruch, auch wenn er nur im Kopf stattgefunden hatte, nicht ein noch schäbigeres Vergehen als Diebstahl? Was war nur aus seiner Moral geworden? Hier stand er, am Grab der Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte, und war in Gedanken bei der Frau, die es ihn beinahe gekostet hätte: Als er damals von Jujús übereilter Hochzeit mit diesem da Costa erfahren hatte, war er so unvorsichtig geworden, war er so riskante Manöver geflogen, dass er dem Tode oft sehr nahe gewesen war. So entstanden Helden.
Nach der Beerdigung begab sich die Trauergemeinde in ein nahe gelegenes Kaffeehaus, in dem Fernando den »Leichenschmaus« organisiert hatte. Der Sergeant von der Polizeiwache trat zu ihm, und obwohl Fernando wusste, um welche äußerst delikate Angelegenheit es ging, war er insgeheim erleichtert. Sich einem akuten
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