So weit der Wind uns trägt
drücken, wie sie es seit Ewigkeiten nicht getan hatte.
Also schön, sie selber war daran nicht ganz unschuldig. Als sie Anfang September im Internat abgeliefert worden war, hatte Mamã traurig ausgesehen und sie abküssen wollen. Aber Laura hatte sie von sich gestoßen, als hätte sie eine eklige ansteckende Krankheit. Sie konnte sich schließlich nicht vor den Augen all der anderen Mädchen eine solche Blöße geben und sich wie ein Baby behandeln lassen, ausgeschlossen! Außerdem: Strafe musste sein. Sie, Laura, hatte sich vehement dagegen gewehrt, weggeschickt zu werden, aber ihre Mutter hatte nicht nachgegeben: »Wir schicken dich nicht weg, Spatz. Wir wollen doch nur, dass du die beste Erziehung genießt, die für Geld zu haben ist.« Danach, bei den drei Besuchen, die sie ihr in Sintra abgestattet hatte, hatte ihre Mutter gar keinen Versuch mehr unternommen, Laura zu herzen.
Laura tappte auf Zehenspitzen durchs Haus. Morgen war ihr »großer« Tag, der zwar erfahrungsgemäß nicht wirklich groß werden würde, ihr dafür aber höchstwahrscheinlich das Fahrrad einbrächte. Und das musste bereits irgendwo stehen. Laura wollte es unbedingt finden. Sie suchte an den unmöglichsten Stellen, doch weder in der Besenkammer noch auf dem Dachboden oder im Keller hinter den riesigen Fässern, in denen der Portwein reifte, war ihr Geschenk verborgen. Befand es sich womöglich im Werkzeugschuppen? Nein, auch dort war nichts zu finden. Sie hatte nur noch eine Chance: Der riesige Kleiderschrank im Schlafzimmer ihrer Eltern war der einzige verbleibende Ort, an dem ein Gegenstand dieser Größe versteckt sein konnte. So leise, wie sie nur konnte, schlich Laura sich an die Tür des Zimmers, um durchs Schlüsselloch zu prüfen, ob die Luft rein war.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich jetzt, am Nachmittag, irgendjemand in dem Raum aufhalten würde. Umso größer war ihr Schreck, als sie sah, wie ihre Mutter auf der Bettkante saß und ihr Vater ruhelos durchs Zimmer schritt. Hm, hochinteressant. Vielleicht konnte sie, wenn sie lauschte, etwas über ihr Geburtstagsgeschenk in Erfahrung bringen. Laura drückte die rechte Seite ihres Gesichts ganz fest gegen die Tür, um sich kein Wort entgehen zu lassen.
»Das muss aufhören. Was wirft das für ein Licht auf uns?«, vernahm sie die Stimme ihres Vaters.
»Ich bitte dich, Rui. Wir leben doch nicht im Mittelalter. Wenn ich keine männlichen Besucher mehr empfangen darf, dann kann weder der Arzt zu Paulinho kommen noch ein Handwerker zu irgendeiner Reparatur. Ich kann dann leider auch nicht mehr deinen hochverehrten Doutor Braga bewirten, und die Stippvisiten des netten Senhor Teobaldo aus dem dritten Stock werden dann auch ein Ende haben. Falls es dich interessiert: Der Mann ist über achtzig. Mit ihm wirst du mir ja wohl kein Techtelmechtel unterstellen wollen.«
»Du drehst mir das Wort im Munde um.«
»Aber ganz und gar nicht. Verdreht ist nur deine Wahrnehmung – und die stammt auch noch aus zweiter Hand.«
»Wie sonst sollte ich es denn verstehen, wenn Paulinho mir erzählt, dass immer ein Herr bei euch zum Kaffee vorbeischaut?«
»So, wie ich es dir erklärt habe. Es handelt sich um einen Jugendfreund von mir, aus dem Alentejo. Was ist denn schon dabei, wenn wir uns ab und zu sehen und alte Erinnerungen aufwärmen?«
»Normalerweise nichts. Aber die Art und Weise, wie ihr sie ›aufwärmt‹, scheint mir doch ein wenig zu vertraulich zu sein.«
»Nur weil Paulinho gesehen hat, dass Fernando meine Hand geküsst hat? Ehrlich, Rui, ich glaube, deine Phantasie geht mit dir durch.«
Laura, die weiterhin gespannt an der Tür klebte, glaubte ihrer Mutter aufs Wort. Paulinho hatte wahrscheinlich sowieso alles erstunken und erlogen – ihr Bruder war mit seinen sechseinhalb Jahren der schlimmste Lügenbold, der ihr je untergekommen war. Eine Petze war er auch. Außerdem war Laura sich ziemlich sicher, dass Paulinhos Asthma gar nicht wirklich existierte. Er hatte die Anfälle jedenfalls immer nur dann, wenn Mamã in der Nähe war.
»Fernando heißt er also, hm?«, hörte sie ihren Vater nun sagen. »Weißt du, Jujú, mir ist es völlig egal, was du mit diesem Fernando treibst. Solange du dich nicht schwängern lässt und solange es niemand mitbekommt. Am allerwenigsten unsere Kinder. Ist das klar?«
»Was heißt hier: Ist das klar? Willst du mir drohen?«
»Ja. Ich will nicht, dass die Kinder in dem Bewusstsein aufwachsen, dass ihre Mutter eine Ehebrecherin ist.
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