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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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selten vor. Sollten Sie etwa einer von Pater Martins Engeln sein?«
    Die Mädchen klatschten in die Hände. Frau Nördlinger wurde verlegen und sagte leise: »Ach, Menschen auf der Flucht …«, und lief in die Küche.
    Irmgard stieß Anna an und flüsterte: »Die war wirklich sehr nett zu uns. Ich hätte allerdings nie für möglich gehalten, dass es so dicke Engel gibt.«
    Es war noch dunkel, als die große Gruppe ins Tal hinunterstieg und die Donau erreichte. Noch wiegte sich das Schiff wie ein schlafendes schwarzes Ungetüm auf den Wellen. Kurz vor vier wurde es auf Deck lebendig. Befehle wurden gerufen, aus dem Schornstein quollen die ersten Rauchwolken. Aus dem Laderaum stiegen Menschen an Deck. Vor zwei Holzhäuschen auf dem Vorderdeck bildeten sich lange Schlangen. Wer sich nicht anstellen wollte, verrichtete sein kleines Geschäft über der Reling an der Flussseite. Ein vierschrötiger Mann mit einem grauen Stutzbart und starken Backenknochen öffnete das Tor auf dem Steiger.
    »Sind Sie die Mädchen aus Maria Taferl?«, fragte er Dr. Scholten.
    Der grinste. »Ich bin zwar ein Mann, aber mit allem anderen haben Sie recht.«
    »Ich bin der Schiffsführer. Mein Name ist Kuronew. Der Raum unter Deck unserer Kaiserin Elisabeth ist begrenzt. Wir haben Flüchtlinge aus Pressburg aufgenommen. Aber wenn alle zusammenrücken, mag es reichen. Kommen Sie also an Bord. In zehn Minuten legen wir ab.« Er schaute zum Himmel. »Verdammter Mist. Ich habe gehofft, dass heute die Wolken tief hängen. Regnen soll es, regnen! Aber der vermaledeite Wind hat alles blank gefegt.«
    »Regen? Hat der Fluss nicht genug Wasser?«, fragte Dr. Scholten.
    »Unsinn. Die Gefahr droht von oben. Erst gestern haben uns Tiefflieger beschossen. Es waren drei russische Ratas. Die Amis sind gefährlicher. Zum Glück haben sie nur unseren Schornstein gelöchert. Der beste Schutz gegen diese Geier sind tief hängende Wolken und Regen.«
    Sie gingen an Bord und gelangten über eine steile Eisentreppe in den Laderaum. An den trüben Schein einer Funzel mussten sich die Augen erst gewöhnen. Die Kaiserin Elisabeth hatte vorher wahrscheinlich Kohlen geladen. Es war schmutzig und kalt dort unten. Alte Männer, Frauen und Kinder saßen oder lagen auf dem Boden. Einige sprachen leise in einer fremden Sprache miteinander. Das muss Tschechisch sein, dachte Anna. Sie fand einen Platz neben einem vielleicht zehnjährigen hellblonden Mädchen und einer älteren Frau, die leise vor sich hin weinte. Anna wollte sie ablenken. »Sind Sie schon lange auf der Flucht?«, fragte sie.
    Die Frau antwortete nicht.
    »Woher kommen Sie?«, versuchte es Anna noch einmal.
    »Oma will kein Deutsch sprechen«, antwortete das Mädchen. »Seit die Soldaten meinen Onkel und meine Tante erschossen haben, will sie kein Deutsch mehr sprechen.«
    »Warum haben die Soldaten das getan?«
    Das Mädchen hob die Schultern. »Wer weiß? Drei von den Deutschen sind erschossen worden. Sie haben gesagt, Partisanen hätten die Männer getötet.«
    »Und dein Onkel gehörte dazu?«
    »Nein, nein. Er sollte Partisanen verraten. Aber er kannte sie nicht. Er hat nie etwas mit denen aus den Wäldern zu tun gehabt. Was sollte er sagen? Da haben sie ihn und meine Tante und noch zehn andere Menschen erschossen.«
    Die Frau sagte etwas zu dem Mädchen. »Ich darf nicht mit dir darüber reden«, sagte es.
    »Woher kommt ihr?«, fragte Anna.
    »Aus Bratislava. Heißt jetzt Pressburg.«
    In diesem Augenblick wurde die Schiffsmaschine angeworfen. Die Kolbenstöße ließen das Schiff erzittern. Um Punkt vier legte die Kaiserin Elisabeth ab. Ruth drängte sich zwischen Anna und das Mädchen. Durch die Luke konnten sie den Sternhimmel sehen.
    »Ob unsere Mütter auch ab und zu die Sterne anschauen?«, fragte Ruth.
    »Bestimmt«, antwortete Anna. »Und dann denken sie an uns.«
    »Was werden sie wohl denken, Anna?«
    »Ach, Ruth, wochenlang haben wir keine Post bekommen und unsere Mütter auch keine von uns. Sie werden bestimmt einen besonders hellen Stern anschauen und vor allem einen Gedanken hinaufschicken: Lass sie leben, du, der die Sterne lenkt, lass sie leben. Denken wir das nicht auch immer wieder?«
    Die Frau mischte sich ein und sagte etwas in ihrer Sprache. Das fremde Mädchen übersetzte: »Oma sagt, er hilft uns nicht mehr, der da oben. Er hat uns vergessen. Sagt meine Oma.« Allmählich verblassten die Sterne. Das Stampfen der Maschine schläferte Ruth ein. Sie wurde erst wach, als das Schiff an

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