So weit die Wolken ziehen
warten«, sagte Frau Krase. »Wenn sie dann immer noch nicht aufgetaucht sind, werden wir wohl oder übel losziehen. Außerdem, sehen Sie sich die Kinder doch einmal an, Dr. Scholten. Die sind hundemüde. Den Rucksack stundenlang schleppen, das werden sie nicht schaffen. Eine längere Pause wird ihnen guttun.«
»Aber wir brauchen nur leichtes Handgepäck mitzunehmen, Frau Krase. Alles andere wird mit einem Auto hinterhergebracht.«
»Alles andere?«, sagte Lydia. »Wir haben nur noch das, was wir auf dem Leib tragen. Alles ist weg. Alles.«
»Das Leben nicht, Lydia. Nicht das Leben«, sagte Anna.
Schon bald erreichten sie die Donaufähre. Während der Überfahrt erinnerte sich Dr. Scholten an den Umschlag, den Pater Martin ihm gegeben hatte. Erst an der Donau sollte er ihn öffnen. Der Pater hatte ihm eine Abbildung des Marienbildes mitgegeben und auf die Rückseite geschrieben: »Sie sind bei uns oft mit Ihrem Orgelspiel und mit Ihrem Chor eingesprungen. Nie wollten Sie entlohnt werden. Der beigelegte Notgroschen wird Ihnen sicher willkommen sein. Ihre Patres Lukas und Martin aus Maria Quell.« Fünf Hundertmarkscheine lagen in dem Umschlag. Dr. Scholten atmete erleichtert auf. Er hatte dem Fährmann das letzte Geld aus der Kasse geben müssen. »Die fünfhundert Mark sind wahrscheinlich kein Wunder«, murmelte er. »Aber wunderbar ist es doch, wenn man wieder eine Summe zur Verfügung hat.«
Das letzte Stück ging es ständig bergauf. Sie erreichten ein Plateau hoch über dem Donautal. Ein herrlicher Blick tat sich vor ihnen auf. Maria Taferl lag nicht weit vor ihnen.
Die Unterkunft war bald gefunden und das Personal empfing sie sehr herzlich. Frau Nördlinger, die Wirtschafterin, eine sehr dicke Person von höchstens dreißig Jahren, sagte zu Dr. Scholten: »Der Herr Bürgermeister hat übrigens angerufen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass eine Frau Theiß die Gelegenheit genutzt hat, mit dem Zug bis Salzburg zu fahren. Sie hat sich einigen größeren Gruppen aus Maria Quell angeschlossen.«
»Danke für die Nachricht«, sagte Dr. Scholten. »Ich hoffe nur, dass wir bald alle wieder zusammen sind.«
»Soll ich nicht Frau Theiß nachfahren, Dr. Scholten?«, fragte Frau Krase.
»Und wenn Sie Frau Theiß nicht finden? Nein. Wer weiß, wo die Gruppen untergekommen sind. Wir anderen sind Gott sei Dank wieder zusammen. Wir brauchen Sie hier, Frau Krase.«
Frau Wisnarek konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. »Sehen Sie, Dr. Scholten, wir hätten doch den Zug über Linz nach Salzburg nehmen sollen.«
Dr. Scholten antwortete bissig: »Bestimmt weil es dort hervorragende Damenfriseusen gibt, nicht wahr, Frau Wisnarek?«
Sie schaute ihn wütend an, sagte aber nichts mehr.
»Sie müssen jetzt zum Essen in den Speiseraum kommen«, sagte Frau Nördlinger. »Die Suppe wird sonst kalt. Die Mädchen, die fast zwei Jahre hier bei uns gewohnt haben, waren immer pünktlich. Sie kamen aus Berlin und sind vor drei Tagen aufgebrochen.«
Gegen Abend brachte ein Lkw das Gepäck. Die Mädchen gingen in ihre Zimmer. Die letzten Bewohnerinnen hatten die Stuben sauber und aufgeräumt verlassen. Obwohl es noch früh am Abend war, schliefen alle bald ein. Die Betten allerdings reichten nicht für alle und manche mussten auf dem Fußboden liegen. Die Lehrerinnen, Schwester Nora und Dr. Scholten saßen noch eine Weile beieinander.
»Wie sind Sie eigentlich auf die Mädchen aus dem Unfallwagen gestoßen, Frau Krase?«, fragte Dr. Scholten.
»Die Kollegin Theiß, die Gruppe und ich kamen mit unserem Lkw erst kurz vor Mitternacht an der Straßensperre an. Der Fahrer weigerte sich, in eine Nebenstraße abzubiegen. Wir richteten uns auf der Ladefläche zum Schlafen ein. Erst als die Straße gegen Morgen für Lkws immer noch nicht freigegeben worden war, entschlossen wir uns, zu Fuß weiterzugehen. Ich ging ganz vorn und sah die Toten dort im Dreck liegen. Ein paar Jungen in schwarzen Winteruniformen hatten ihre Fahrräder am Straßenrand abgestellt und gingen an den Toten entlang. Ich wollte unseren Mädchen den Anblick ersparen und bat Frau Theiß, mit der Gruppe den Weg zu nehmen, der zu einem Bauernhaus abbog. Ich würde nachkommen. Weiter hinten müssten wir uns später einen Weg zurück auf die Landstraße suchen. Ich selbst ging langsam näher, weil ich befürchtete, es könnte sich um Mädchen aus einer Gruppe von uns handeln. Die mit den Rädern waren übrigens aus dem Oberhausener Jungenlager. Sie hatten sich zu
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