So weit die Wolken ziehen
einer Landungsbrücke entlangschleifte und stoppte.
Dr. Scholten suchte nach dem Schiffsführer. Er wollte sich erkundigen, warum es nicht weiterging. »Wo steckt der Kapitän?«, fragte er einen der Matrosen. Der zeigte mit dem Finger auf eine Tür unterhalb des Schornsteins. »Maschinenraum«, sagte er. »Aber Vorsicht. Explosionsgefahr.«
»Habt ihr einen Blindgänger gefunden?«
Der Matrose spuckte über die Reling. »Nee«, sagte er. »Der Kuronew selbst geht jeden Augenblick hoch.«
Dr. Scholten ließ sich nicht abschrecken und stieg in den Maschinenraum hinunter. Der Heizer und der Maschinist starrten die Dampfmaschine an. Der Maschinist klopfte mit einem Schraubenschlüssel leicht gegen ein Ventil.
»Schlag das Ding nicht ganz zu Bruch«, schnauzte der Schiffsführer. »Sag mir lieber, ob du das Biest wieder hinkriegen kannst.«
Der Maschinist brummte vor sich hin. »Nicht mal mit der goldenen Haarnadel meiner Mutter. Ohne ein Ersatzventil geht gar nichts mehr.«
»Der Deibel soll die marode Maschine holen. Wenn uns die Russen nicht auf den Fersen säßen, würde ich den Kahn auf Grund setzen.«
Erst jetzt bemerkte Kuronew Dr. Scholten. »Raus hier«, herrschte er ihn an.
»Ich wollte Sie …«
»Raus!« Er schnappte sich eine Kohlenschaufel und hob sie hoch. Dr. Scholten kletterte an Deck. Wenig später kam der Schiffsführer hinterher. »Was gibt’s?«, fragte er jetzt in so ruhigem Ton, als ob nichts gewesen wäre.
»Ich wollte Sie nur fragen, warum wir hier angelegt haben.«
»Maschinenschaden«, antwortete Kuronew. »Wenn wir die verdammten Ersatzteile auftreiben, können wir am Nachmittag weiterfahren. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn ich bekomme, was ich brauche. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie mit Ihren Damen so lange einen Stadtbummel machen. Sie stören hier nur. Ich werd Ihnen sagen, ob und wann wir ablegen.«
Der Lehrer kletterte in den Laderaum zurück. Was für eine stickige Luft hier unten, dachte er. Es wäre wirklich nicht schlecht, wenn wir mal hier rauskämen.
»Wo sind wir denn eigentlich, Dr. Scholten?«, fragte Irmgard. Die Antwort gab Lydia Mohrmann: »Wir sind fünf Stunden gefahren und müssten in Ybbs sein«, sagte sie. »Die nächsten Städte auf der rechten Seite sind Sarmingstein, St. Nikola und Grein. Auf der linken Seite müssten wir etwas weiter vom Ufer entfernt Neustadtl sehen können und dann Ardagger.«
Dr. Scholten wunderte sich über die Antwort. »Woher weißt du das, Lydia?«
Anna antwortete: »Wenn Lydia sich einmal auf der Karte den Weg eingeprägt hat, irrt sie sich nie. Zu Hause sind wir oft in der Schwarzen Heide gewandert. Auf Lydia konnten wir uns verlassen.«
Dr. Scholten sah Lydia erstaunt an. »Sie hat immer den Weg gewusst?«
»Frau Miesen, unsere Lehrerin, ist mit uns in der vierten Klasse mal mit dem Bus zum Niederrhein gefahren. Wir wollten erst im Reichswald wandern und zum Schluss noch den Xantener Dom anschauen. Aber wir haben uns in dem riesigen Wald verirrt. Lydia wollte Frau Miesen die Richtung zeigen, die wir einschlagen sollten. Aber die Lehrerin hat gedacht, Lydia wollte sich nur wichtig machen. Sie hat mit der Wanderkarte und mit ihrem Kompass herumgemacht. Schließlich wussten wir überhaupt nicht mehr, wo wir waren. Da hat Lydia ihr auf der Karte gezeigt, wo es langgeht. Ganz hat Frau Miesen ihr nicht getraut. Aber schon eine halbe Stunde später haben wir die beiden Spitzen des Viktordoms gesehen.«
»Warst du denn vorher nie in Xanten, Lydia?«
»Nein, Herr Doktor. Aber ich hatte mir zu Hause die Karte genau angesehen.«
»Erstaunlich«, sagte Dr. Scholten. »Ich weiß ja, dass du ein Ass in Mathematik bist. Aber über deine geografischen Fähigkeiten kann ich nur staunen.«
Schwester Nora trat zu Dr. Scholten und flüsterte ihm zu: »Wir müssten mit einigen Mädchen dringend einen Arzt aufsuchen. Sie klagen über starken Juckreiz, besonders zwischen den Fingern und den Zehen. Ein paar haben sich schon wund gekratzt.«
»Was kann das sein?«
»Offenbar stark infektiös. Gestern waren es erst zwei Mädchen, heute sind es schon viele.«
Es vergingen zwei Stunden, bis der Schiffsführer zurückkehrte. Er hatte die Ersatzteile beieinander. »Sind mich teuer zu stehen gekommen«, knurrte er.
»Bestimmt haben Sie einen Hundertmarkschein auf den Ladentisch legen müssen«, vermutete Frau Wisnarek.
»Ach, wer will heute noch das wertlose Bargeld? Ein Radiogerät haben sie verlangt. Ich hab mir gedacht, lieber
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