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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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schon in der Nacht und gehen zur Donau hinunter. Dort nimmt uns ein Schiff mit. Wahrscheinlich bringt es uns nach Linz.«
    »Kannst du nicht eine Landkarte für mich auftreiben, Anna? Irgendwer im Haus wird vielleicht eine haben. Ich möchte ausrechnen, wie lange die Fahrt dauert.«
    »Ich werde es versuchen«, versprach Anna. »Ich frage Frau Nördlinger.«
    Auch Frau Nördlinger hatte gehört, dass die Mädchen die Flucht mit einem Schiff fortsetzen sollten. Sie besaß eine große Donaukarte.
    »Ich hänge dran«, sagte sie. »Kurz vor dem Krieg habe ich mit meinem Verlobten eine Schiffsreise donauabwärts über Wien nach Budapest gemacht. Die Karte ist für mich ein Erinnerungsstück. Bitte geh vorsichtig damit um.«
    »Ganz bestimmt. Meine Schwester Lydia möchte ausrechnen, wie lange wir brauchen, bis wir in Linz sind.«
    »Nun«, sagte Frau Nördlinger, »wir haben damals von Linz stromabwärts bis St. Pölten einen Tag gebraucht. Aber stromauf geht es natürlich langsamer. Wir sind mit einem Ausflugsdampfer gefahren. Die Kojen in den Kabinen waren ziemlich schmal.« Sie lachte. »Damals, du wirst es kaum glauben, war ich rank und schlank.«
    »Was hat Ihr Verlobter dazu gesagt, Frau Nördlinger, dass Sie etwas zugelegt haben?«
    »Etwas ist gut«, antwortete sie. »Aber gesagt hat Benno gar nichts mehr dazu. Er ist gleich in den ersten Kriegstagen in Polen gefallen.« Sie seufzte. »So viele kommen nicht mehr zurück. Unsere Donaufahrt, die war ein wunderschöner Anfang und ein Abschied zugleich. Es war aber auch ein herrliches Schiff und nicht so ein dreckiger Kohlenschlepper wie der, der euch aufnehmen wird.«
    »Mit einem dreckigen Schlepper sollen wir fahren?« Anna war enttäuscht. Sie hatte an ein elegantes Schiff gedacht, so wie sie es auf dem Abreißkalender gesehen hatte, der zu Hause in der Pflanzstube hinter dem Gewächshaus hing. Wilhelm Gustloff hieß das Schiff, es war das schönste und größte deutsche Ferienschiff.
    »Wiedersehen macht Freude«, sagte Frau Nördlinger und gab ihr die Karte.
    Lydia prägte sich alle Orte ein, die das Schiff passieren musste. Es ärgerte sie, dass sie der Karte die genaue Kilometerzahl bis Linz nicht entnehmen konnte. Als Schwester Nora ihr gegen Abend eine weiße Salbe dick über den Fußrist strich und den festen Verband anlegte, fragte Lydia: »Was meinen Sie, Schwester, wie schnell wird das Schiff wohl fahren?«
    Schwester Nora lachte. »Kind, ich bin einmal mit einem Raddampfer vom Duisburger Hafen bis Xanten gefahren. Mehrere Stunden hat das gedauert. Aber genauer weiß ich selbst das nicht mehr.«
    Da faltete Lydia die Karte zusammen und gab sie Anna zurück.
    »Schade. Ich hätte gerne gewusst, ob wir zwei oder drei Tage bis Linz brauchen werden.«
    »Für deinen Fuß ist es auf jeden Fall besser, wenn wir das Schiff nicht schon nach einem Tag wieder verlassen müssen«, sagte Schwester Nora zu Lydia.
    Es war ein warmer Frühlingstag gewesen. Die Sonne hatte von morgens bis abends geschienen und nur ein paar weiße Federwolken zeigten sich über dem Fluss. Man konnte weit ins Donautal hinunterschauen. Alles sah so friedlich aus. Nur einmal donnerten drei Tiefflieger über den Strom. In der Ferne waren Schüsse zu hören. Der Tag verglühte in einem flammenden Abendrot.
    »Wird Regen geben«, sagte Frau Nördlinger.
    Schon um acht Uhr wurden die Mädchen zum Schlafen geschickt.
    »Ist ja noch hell«, maulte Irmgard.
    »Ihr werdet früher geweckt, als euch lieb ist«, sagte Frau Lötsche.
    Schon um zwei Uhr nachts saßen die Mädchen am Frühstückstisch. Fröstelnd und schläfrig tranken sie die heiße Brühe, die Frau Nördlinger in großen Blechkannen bereitgestellt hatte. Dazu gab es Marmeladenbrote und für jeden drei Trockenpflaumen.
    »Das ist leider alles, was ich euch auftischen kann«, sagte Frau Nördlinger. »Ich habe noch eine Bitte, verlasst eure Stuben so, wie ihr sie angetroffen habt. Wer weiß, ob wir im Laufe des Tages nicht eine andere Gruppe aufnehmen müssen. So viele Menschen sind auf der Flucht. Ich wünsche euch, dass das Schiff euch der Heimat ein ordentliches Stück näher bringt.«
    Dr. Scholten bedankte sich. »Pater Martin in Maria Quell hat uns Mut gemacht und gesagt, wir würden auf unserem langen Weg immer wieder Engeln begegnen. Sie, Frau Nördlinger, sind seit ungefähr zwanzig Stunden unermüdlich für uns auf den Beinen. Nie haben wir eine Spur von Missmut entdecken können. Das kommt heutzutage bei den Menschen sehr

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