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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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die Angst legt sich mir wie ein Stein auf die Brust.«
    Was das Kind für eine Fantasie hat, dachte Anna. Sie rückte zur Seite, schlug die Bettdecke zurück und sagte: »Nun komm schon, du Angsthase.«
    Wenig später war Ruth eingeschlafen. Anna wagte kaum, sich zu rühren, und sie war froh, als kurz vor vier der Weckruf ertönte.
    Auf den Tischen im Speisesaal standen Kannen mit heißem Tee. Drei Scheiben Brot, dick bestrichen mit Butter und Marmelade, dazu ein gekochtes Ei.
    »Heute braucht nicht gespart zu werden«, sagte Frau Hennig. »Wer das Ei jetzt nicht essen mag, kann es mitnehmen. Es ist hart gekocht. Vergesst auch nicht die Tüte mit dem Reiseproviant. Für heute reicht’s. Was morgen ist, das wissen wir nicht.«
    Dr. Scholten sagte kurz vor dem Aufbruch: »Schülerinnen, ich bitte euch, unterwegs keinen Lärm zu machen. Dies ist kein Schulausflug, sondern hoffentlich die letzte Etappe unserer Flucht. Einer Flucht, die die Militärregierung nicht wünscht. Wir haben also allen Grund, keine Aufmerksamkeit zu erregen.«
    Frau Lötsche hatte schließlich doch nach den Krücken gefragt. Frau Brüggen sah, wie unbeholfen sie sich damit bewegte. Sie nahm ihr eine Krücke ab und sagte: »Karin, häng dich bei mir ein. Dann wird es schon gehen.«
    »Ich hoffe, wenn ich erst mal ein Stück gelaufen bin, dass es dann besser wird. Mein Fuß ist geschwollen. Ich nehme an, dass ich eine Bänderdehnung habe.«
    Der Morgen dämmerte herauf, als sie kurz vor sechs das Fährschiff erreichten. Nebelbänke lagen über dem Fluss. Der Sergeant und zwei Soldaten traten aus der kleinen Militärbaracke ins Freie. Sie reckten sich verschlafen und riefen den Mädchen zu: »Good morning, girls.«
    Obwohl das recht freundlich klang, bekam Dr. Scholten einen Schrecken, als er bemerkte, dass der Sergeant sein Handfunkgerät nahm und ein längeres Gespräch führte. Hatte er seinen Vorgesetzten informiert?
    Plötzlich winkte der Sergeant Dr. Scholten zu sich heran. Der nahm vorsichtshalber Anna mit.
    »Er will wissen, ob wir Brotmarken haben«, sagte sie.
    Was will er mit unseren Brotmarken?, dachte Dr. Scholten. Er zog seine Brieftasche heraus und zeigte ihm die Marken. Der Sergeant deutete auf ein Haus gleich hinter dem Damm und redete auf Anna ein.
    Sie verstand, dass in dem Haus eine Bäckerei sei, in der jeden Morgen frisches Brot verkauft werde. Sie sollten hingehen und sagen, Sergeant Beaucamp schicke sie.
    »Brot für uns?«, fragte Dr. Scholten.
    Der Sergeant sagte: »Yes. Snell, snell.«
    Dr. Scholten rief zwei Mädchen und gab ihnen Brotmarken und Geld. Kurz darauf kehrten sie mit sechs Broten zurück.
    Wie auf Befehl des Sergeanten hin legte der eine Soldat die Hände über die Augen, der andere hielt sich die Ohren zu und der Sergeant selber verschloss mit der Hand seinen Mund. Als die Mädchen Beifall klatschten, brachen sie in Gelächter aus und verschwanden wieder in ihrer Baracke.
    Auf dem Fährschiff rührte sich nichts. Es lag fest vertäut am Steiger. Eine Besatzung schien es nicht zu geben. Erst gegen acht Uhr, als die Sonne längst aufgegangen war und die Nebelbänke sich allmählich auflösten, kamen der Schiffsführer und zwei Matrosen mit Fahrrädern die Uferstraße heruntergefahren.
    »Nach Aschach auf die andere Seite?«, fragte der Schiffsführer mürrisch.
    »Ja, nach Aschach. Möglichst schnell weg vom linken Ufer«, antwortete Dr. Scholten.
    »Wie viele Personen?«
    »Zweiundfünfzig Kinder und neun Erwachsene.«
    »Kinder ist gut«, brummte der Schiffsführer. »Ab zwölf zahlen alle den vollen Preis.«
    Er schaute sich die Schar der Fahrgäste flüchtig an und sagte: »Erwachsene drei Mark, die anderen die Hälfte. Macht also zusammen …«, er machte eine kleine Pause, »insgesamt hundertvierundvierzig Mark.«
    Dr. Scholten machte gar nicht erst den Versuch herauszubekommen, wie er diese Summe errechnet hatte. Nur weg, weg von diesem Ufer. Er gab dem Schiffsführer drei Fünfzigmarkscheine.
    »So früh hab ich noch kein Wechselgeld«, brummte der.
    »Stimmt so«, sagte Dr. Scholten nur.
    Es dauerte noch fast eine Stunde, bis das Fährschiff ablegte. Die Mädchen waren eng zusammengerückt, denn die Morgenkälte kroch ihnen in die Glieder.
    Dr. Scholten wunderte sich immer noch über die Höhe des Fährgeldes, aber nun stellte er fest, dass es nicht direkt zum anderen Ufer hinüberging. Sie fuhren nun schon über zwanzig Minuten stromabwärts. Er kletterte die Leiter zum Führerhaus hoch. Der

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