So weit die Wolken ziehen
Schreibtisch auf einem niedrigen Schrank stand.
»Was nun?«, stieß Frau Lötsche hervor. »Das können wir unseren Schülerinnen doch nicht verschweigen, oder?«
»Wir leben nicht auf einer Insel«, sagte Dr. Scholten. »Sie werden es so oder so erfahren.«
»Verbreiten Sie diesen Angriff unserer Feinde auf gar keinen Fall als Schreckensmeldung. Übermitteln Sie diese Nachricht vielmehr so, dass keine Zweifel am Sieg unserer gerechten Sache aufkommen können. Und was Sie betrifft, Frau Czech, gestalten Sie die kommenden Nachmittage so, dass unsere Mädchen … na ja, Sie werden das schon machen. Unsere Damen und Dr. Scholten werden Ihnen gewiss verstärkt mit Rat und Tat zur Seite stehen.«
»Ich wollte heute, am 6. Juni, unsere vaterländischen Sportwettkämpfe vorbereiten. Da ist mir jede Hilfe willkommen. Gut trainiert haben wir ja in diesem Frühjahr. Ich schlage vor, dass wir heute Nachmittag um vierzehn Uhr einen Vorlauf unter Wettkampfbedingungen starten. In zwei Wochen schicken wir die besten Sportlerinnen unseres Lagers zum großen Gebietssportfest in die Stadt.«
»Körperliche Ertüchtigung ist immer gut«, bestätigte der Direktor. »Ich werde Sie über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten.«
Auf dem Flur sagte Frau Krase: »Was war denn mit dem Direktor los? Als wir hinausgingen, ist er nicht einmal aufgestanden. Ist dir das auch aufgefallen, Lene?«
»Uns allen ist der Schreck in die Glieder gefahren«, antwortete Frau Brüggen.
Dr. Scholten murmelte etwas vor sich hin, was wie »Anfang vom Ende« klang.
Beim Mittagstisch fehlte Herr Aumann.
»Der Herr Direktor hat sich abgemeldet«, sagte Frau Zitzelshauser. »Er fühlt sich unwohl.«
»Dem ist bestimmt etwas auf den Magen geschlagen«, stichelte Frau Krase. »Er sah heute Morgen schon mitgenommen aus.«
»Wie haben denn die Mädchen die Neuigkeit verkraftet?«, fragte Frau Lötsche.
Dr. Scholten sagte: »Sie haben sich an schlechte Nachrichten gewöhnt. Im Osten geht es ständig zurück, die Halbinsel Krim verloren, Monte Cassino in Italien geräumt, Rom in der Hand der Alliierten. Was die Schülerinnen wirklich berührt, sind die verheerenden Luftangriffe auf deutsche Städte. Sie sehen die Bombergeschwader nach Wien und Wiener Neustadt fliegen. Das liegt ihnen näher als die ferne Küste der Normandie.«
»Ich war nicht in der Lage, das Thema Invasion in der siebten Klasse anzuschneiden«, gestand Frau Lötsche. »Ich fürchte, mir wären die Tränen gekommen.«
Alle schwiegen. Es war neu, dass selbst die Kollegin Lötsche den Kopf hängen ließ.
Mitte Juni zogen die jüngeren Schülerinnen mit Eimern und Blechtassen auf den Berg. Heidrun Czech hatte allen verraten, dass dort auf halber Höhe ein Schatz verborgen sei. Den gelte es zu heben. Anna und Irmgard hatte sie eingeweiht, um welchen Schatz es sich genau handelte. Die beiden sollten als Begleiterinnen mitgehen. Ruth bestand darauf, auch dabei sein zu dürfen. Schließlich gehöre sie zu den Kleinen. Außerdem wisse sie, dass es dort oben einen Schatz gebe.
»Auf einmal gehörst du zu den Kleinen?«, sagte die LMF. »Ich frage mich schon lange, wie es kommt, dass du bei den Größeren in der Stube untergeschlüpft bist.«
Der Weg führte durch den Bergwald. Das volle Laub der Bäume schützte die Kinder vor der Sommersonne. Trotzdem, als sie schon über eine Stunde gegangen waren, begannen die ersten zu stöhnen. Ruth gehörte nicht dazu. Durch den täglichen Fußweg bei Wind und Wetter in die Dorfschule war sie gut trainiert. Sie hätte keine Schwierigkeiten gehabt, wenn es noch Stunden so weitergegangen wäre. Außerdem ahnte sie, wohin Heidrun Czech sie führen wollte. Sie hatte ihre Freundin Esther in dieser Woche nämlich nicht besuchen können. »Ich muss jeden Nachmittag mit meiner Mutter auf den Berg«, hatte Esther gesagt und Ruth ihre Hände hingehalten. Ein matter schwarzblauer Schimmer zeigte sich an Esthers Fingerspitzen. Als Ruth neugierig fragte, womit sie sich da oben die Finger schmutzig mache, sagte Esther: »Mehr darf ich nicht verraten. Wenn es sich herumspricht, was dort oben zu finden ist, klettern zu viele Leute hinauf.«
Sie erreichten den Saum des Waldes. Zwischen größeren Steinen und Geröllflächen wuchsen Blaubeerbüsche. Weiter oben sah Ruth ihre Freundin mit ihrer Mutter. Esther winkte ihr zu.
Blaubeeren! Das sollte der Schatz sein?
Die Mädchen scharten sich um Heidrun Czech. Viele fühlten sich an der Nase
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