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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Er kämpft irgendwo in Russland. Er ist Gefreiter bei den Pionieren.«
    »Hmm, Gefreiter ist er. Das hört sich gut an. Obwohl …« Er stockte kurz. »Na ja, mir fällt ein, dass Adolf Hitler es im letzten Krieg auch nur bis zum Gefreiten gebracht hat.«
    Frau Salm goss den Tee ein.
    »Wo ist dein Papa eigentlich?«, fragte Ruth ihre Freundin.
    Bevor Esther antworten konnte, sagte Frau Salm: »Esthers Vater ist vermisst. Wir hoffen, dass er noch lebt. Aber wir möchten nicht darüber sprechen.«
    Eine Weile blieb es still. Dann sagte Herr Nowotny: »Ich habe jetzt den Garten gründlich aufgeräumt. Früher hatte ich einen Schrebergarten. Solche Kohlköpfe habe ich geerntet.« Es sah aus, als wollte er mit seinen Händen einen Medizinball umfassen.
    »Wenn Sie einverstanden sind, Frau Salm, dann setze ich nächste Woche Grünkohlpflanzen, Rosenkohl und Endiviensalat in die Erde. Und wenn ich Samen für Feldsalat auftreibe, dann können Sie das alles vor dem Winter noch ernten.«
    Frau Salm war einverstanden. »Das würde uns guttun. Aber reicht das denn, was ich Ihnen als Lohn dafür geben kann?«
    »Ich denke schon«, sagte Herr Nowotny.
    Während sie ihren Tee austranken, ging Frau Salm kurz vor die Haustür. Sie schaute nach allen Seiten. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie verriegelte die Tür, und obwohl es ein heißer Tag war, schloss sie auch das Fenster. Dann setzte sie sich ans Klavier und spielte ganz leise eine Melodie. Ruth erinnerte sich dunkel, dass ihr Vater sie gepfiffen hatte.
    Herr Nowotny seufzte, als Frau Salm den Klavierdeckel behutsam schloss.
    »Verwehte Träume«, sagte er.
    Er stand auf und verabschiedete sich. Frau Salm brachte ihn bis vor die Haustür. Wieder schaute sie nach allen Seiten. Sie entdeckte niemanden und schien erleichtert zu sein.
    »Wie viel müsst ihr ihm bezahlen, Esther?«
    »Er will kein Geld.«
    »Er arbeitet ganz umsonst für euch?«
    »Das nicht. Meine Mutter hat sich das Rauchen abgewöhnt. Herr Nowotny kann sich auf unserer Raucherkarte Tabak für seine Pfeife kaufen.«
    »Ist das alles, was er bekommt?«
    »Nicht ganz, Ruth. Er wünscht sich, dass Mutter sich ans Klavier setzt und für ihn spielt.«
    »Was Lustiges von Mozart?«
    »Nein, nein. Diese Melodie, die du eben gehört hast. Die wünscht er sich jedes Mal.«
    »Die hat mein Papa auch öfter gepfiffen.« Ruth spitzte die Lippen und versuchte es auch.
    Frau Salm war inzwischen wieder ins Zimmer gekommen. Als sie hörte, was Ruth pfiff, zuckte sie zusammen. »Kind, kennst du das Lied?«
    »Nur die Melodie hab ich im Ohr.«
    Frau Salm setzte sich, zog Ruth auf ihren Schoß und flüsterte ihr ins Ohr: »Versprich mir, Kind, dass du das nie wieder pfeifst.« Als Ruth sie verständnislos anschaute, fügte sie hinzu: »Die Melodie gehört zu einem verbotenen Lied. Jeder, der es singt, kann angezeigt werden.«
    »Ist das schlimmer, als die alten Weihnachtslieder zu singen?«
    »Es wird gesagt, das sei viel, viel schlimmer.«
    »Wie heißt denn das Lied, Frau Salm?«
    Bevor sie noch antworten konnte, sagte Esther: »Es heißt Die Internationale.«
    Frau Salm sah ihre Tochter zornig an. »Schweig still, Esther!« Dann wandte sie sich an Ruth: »Vergiss, was du gehört hast. Dieses Wort darf nie, nie mehr über deine Lippen kommen. Du bringst sonst dich und uns in Gefahr. Versprochen?«
    »Versprochen«, erwiderte Ruth.
    Am 5. Juli bekam Frau Krase ein Telegramm. Beim Abendessen blieb ihr Platz leer. Der Direktor teilte dem Kollegium und den Schülerinnen den Grund für ihr Fernbleiben mit.
    »Bei einem Bombengriff auf Oberhausen am 12. Juni ist Frau Krases Mutter schwer verletzt worden. Heute traf sie die Mitteilung ein, dass ihre Mutter am 14. Juli in einem Krankenhaus in Oberhausen ihren Verletzungen erlegen ist. Die Beerdigung wird voraussichtlich am Montag, den 17. Juli, sein. Frau Krase hat um Urlaub gebeten. Sie wird morgen mit dem Frühzug fahren und am Freitag, den 21. Juli, ihren Unterricht wieder aufnehmen. Wir wollen uns von den Plätzen erheben und Frau Krases Mutter sowie der vielen anderen Opfer des Terrorangriffs gedenken.«
    Niemand musste die Mädchen ermahnen, still zu sein. Es hatte jemanden im Quellenhof getroffen. Schließlich bedankte sich der Direktor und alle setzten sich wieder. Hätten es nicht auch die eigenen Verwandten sein können?
    Frau Brüggen blieb noch bis in die Nacht hinein bei Frau Krase. Es ging nicht nur darum, ihr beim Packen des Koffers zu helfen. »Ich werde morgen in

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