So weit die Wolken ziehen
der Kirche eine Kerze anzünden, Luise.« Sie hätte gern noch viele tröstliche Worte gesprochen, doch schließlich sagte sie: »Luise, wenn man sich nicht in Floskeln flüchten will, dann versagt die Sprache.«
»Lass nur, Lene. Es tut mir gut, dass du bei mir bist.«
Alles schlief noch im Quellenhof und die Morgensonne stieg groß und blutrot hinter dem Berg hervor, als Frau Brüggen und Frau Krase zum Bahnhof gingen. Frau Brüggen hatte darauf bestanden, den Koffer auf einen kleinen Handwagen zu laden und mit hinunterzugehen.
»Nesselfieber«, befand Schwester Nora, als Irmgard und drei andere Mädchen zu ihr kamen. Ihr Körper war übersät von rosafarbenen Quaddeln, alle scharf abgegrenzt und nur wenig größer als ein Zehnpfennigstück. Es juckte unerträglich.
»Wenn ich euch richtig behandle, seid ihr in ein paar Tagen davon erlöst. Zum Glück bedarf es keiner besonderen Medizin. Geht nur schon mal voran in den Umkleideraum vor dem Schwimmbad. Ich komme gleich nach und bringe etwas mit, was euch helfen wird.«
Die Mädchen hockten sich auf die Bank im Untergeschoss.
»Ob wir ins Schwimmbad müssen?«, fragte Irmgard.
Doch Schwester Nora kam mit vier Bettlaken und einer Flasche Essig zu ihnen. Während sie sich auszogen, bereitete die Schwester in einer Waschschüssel eine Essiglösung vor, tauchte die Bettlaken hinein und legte jedem Mädchen ein Essigtuch über den ganzen Körper.
»Der Umschlag ist kühl«, sagte sie. »Legt euch auf die Bänke. Ich decke euch mit einer Wolldecke zu. Später komme ich wieder herunter und erneuere den Umschlag. Und auf keinen Fall kratzen, wenn es wieder anfangen sollte zu jucken.«
Tatsächlich spürten die Mädchen eine Erleichterung.
Aber schon nach etwa einer Viertelstunde kam die Schwester mit zwei weiteren an Nesselfieber erkrankten Kindern herunter. An diesem Tag wurden neun weitere Kranke von ihr behandelt. Aber die Schwester versicherte, dass es sich bestimmt um Nesselfieber handele und dass keine Ansteckungsgefahr bestehe.
»Ihr müsst irgendetwas gegessen oder berührt haben, das ihr nicht vertragen könnt. Das kann die Beschwerden auslösen.«
Die Mädchen, die schon befürchtet hatten, sie hätten Scharlach und würden in die Stadt ins Krankenhaus gebracht, waren halbwegs getröstet.
Als Frau Krase am 20. Juli nachmittags zurückkehrte, waren alle vom Juckreiz befreit. Aber die anderen machten sich lustig über sie und sagten: »Ihr stinkt wie ein Sauerkrautfass.«
»Morgen dürfen wir unter die Dusche und dann ab ins Schwimmbecken«, sagte Irmgard. »Die Hauptsache ist, Gestank juckt nicht, und totgestunken hat sich noch keiner.«
Gleich nachdem Frau Krase zurückgekehrt war, eilte sie in das Büro des Direktors. Dort hatte sich fast das gesamte Kollegium versammelt, auch die Lehrerinnen, die nicht zur Hausgemeinschaft gehörten und im Ort wohnten. Weil die Sitzgelegenheiten nicht ausreichten, hockten die jüngeren Damen auf dem Boden und lehnten den Rücken gegen die Wand. Dr. Scholten saß auf dem Rand des Schreibtischs. Herrn Aumann, der sonst immer auf Haltung und Korrektheit bestand, schien das heute nicht zu stören. Er saß nahe bei seinem Rundfunkgerät und hielt sein Kinn in beide Hände gestützt. »Ach, da sind Sie ja wieder.« Das war alles, was ihm zu Frau Krases Begrüßung einfiel.
»Du hast es schon gehört, Luise, nicht wahr?«, fragte Frau Brüggen.
Frau Krase nickte.
»Wie hast du es erfahren?«
Nun wurden auch die anderen aufmerksam.
»Als der Zug in Wien einlief, wurde es gerade im Radio gemeldet. Ein Attentat auf Hitler. Es war bis dahin das übliche Gewusel auf dem Bahnhof. Alles war voller Menschen. Hektik, Geschrei, der Lärm der einlaufenden und abfahrenden Züge, das Gedränge und der Kampf um einen Platz im Abteil. Und dann die erregte Stimme aus den Lautsprechern: Ein Attentat auf Adolf Hitler. Der Führer lebt und ist unverletzt. Es war, als hätte eine Geisterhand die Menschen angerührt und gelähmt. Totenstille. Selbst das Zischen der Lokomotiven schien zu verstummen. Entsetzen spiegelte sich in vielen Gesichtern. Manche bedeckten ihre Augen mit den Händen. Ich weiß nicht, wie lange das gedauert hat. Erst allmählich schien wieder Bewegung in die Menge zu kommen. Viele weinten. Andere drohten mit der Faust. Allmählich kehrte der Alltag zu den Menschen zurück. Man hörte sie wieder sprechen, aber leiser als vorher, viele flüsterten. Die Leute gingen langsam zu ihren Zügen. Es kam mir vor, als sei ihnen
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