So weit die Wolken ziehen
sagte: »Der Robert ist ein Schlitzohr. Der macht das.«
Und wie er das machte!
Nachdem die Mädchen sich eine lange Ansprache des Führers über das Radio anhören mussten, stellte Dr. Scholten den Arbeiter Robert Nowotny vor. Er könne als Betroffener wohl am besten berichten, was dieser gesetzliche Feiertag für die Arbeiterschaft bedeute.
»Meine verehrten jungen Damen«, begann er. »Ich will es kürzer machen als unser aller Führer Adolf Hitler. Legt, Kinderchen, legt eure Hände mit dem Handrücken auf euern Schoß. Was seht ihr? Ihr seht zarte, weiche Patschhändchen. So sehen keine Arbeiterhände aus.« Er zeigte auf Ruth, die in der ersten Reihe saß, und forderte sie auf: »Komm her zu mir, mein Kind.« Zögernd trat Ruth nach vorn. »Komm nur nah zu mir her, mein Kind. Ich beiße nicht.« Er streckte ihr seine großen Hände entgegen. »Betaste mal mit deinen süßen Fingerchen meine Handflächen. Was spürst du?«
»Hart wie Stein«, antwortete Ruth.
»Das hast du gut gesagt. Du darfst dich wieder setzen.«
Er nahm ein Feuerzeug aus der Hosentasche und ließ eine Flamme daraus hoch hervorschießen. Nun führte er seine Hand mehrmals langsam, ohne mit der Wimper zu zucken, durch die Flamme. Dann drückte er das Feuer mit den bloßen Fingern aus und steckte das Feuerzeug wieder in die Tasche.
»Habt ihr es alle gesehen, Kinderchen? An ihren Händen kann man die Arbeiter erkennen. Arbeiter können ihre Hand ins Feuer legen, ohne sich zu verbrennen. Wir sind, wie man heute so richtig sagt, Arbeiter der Faust. Es soll ja auch Arbeiter der Stirn geben. Schaut auf euren Herrn Direktor und auf die Lehrpersonen. Die heißen heute Arbeiter der Stirn. Lauter verdienstvolle, kluge Leute, gewiss. Aber können sie es auch aushalten, wenn es rundum brennt? Zucken sie nicht doch zurück, wenn es brenzlig wird? Bekommen sie nicht leicht braune Brandflecke? Uns Arbeitern der Faust hat Adolf, unser Führer, mit dem Tag der Arbeit etwas Niveacreme auf unsere Schwielen geschmiert. Das hat gutgetan. Und die Niveacreme, das ist der Maifeiertag. Unser Führer hat ja selbst wohl keine Schwielen an den Händen. Aber er hat uns den Tag der Arbeit beschert. Einen bezahlten freien Tag. Freie Tage sind immer gut. Sie geben uns Zeit zum Nachdenken. Ihr habt hier im Quellenhof überall grüne Maienzweige aufgestellt. Ich will mit einem Satz des großen deutschen Dichters Friedrich Schiller schließen, der viele Sprüche gemacht hat. Einmal soll er sogar geschrieben haben: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit. Aber das passt heute nicht. Er hat uns aber auch etwas gesagt zu diesem schönen Tag, was wie für den 1. Mai geschrieben worden ist. Eines Tages müssen die Arbeiter der Faust keine Waffen und keine Munition mehr herstellen, die sich die Arbeiter der Stirn ausgedacht haben. Eines Tages werden wir alle wieder aufbauen müssen, was vielerorts in Trümmern liegt. Der Satz heißt so ungefähr: Und neues Leben wächst aus den Ruinen. Auch aus den Ruinen in unserem geliebten Vaterland wird ein neues, ein anderes Leben wachsen. Glück auf dazu.«
Es blieb eine ganze Weile still. Doch dann begann Schwester Nora zu klatschen und sofort brandete Beifall auf. Viele Mädchen wollten Robert Nowotny die Hand drücken, nicht weil er sie begeistert hatte, sondern weil sie spüren wollten, wie sich Schwielen anfühlen.
»Der hat Hände, so groß wie Bratpfannen«, sagte Ruth.
Direktor Aumann war verärgert. »Was haben Sie uns da für einen merkwürdigen Kauz herangeschleppt, Herr Dr. Scholten?«
»Er hat es immerhin fertiggebracht, die Mädchen aus ihrem Tiefschlaf aufzuwecken.«
Herr Aumann hatte es als Erster gehört. Er bat die Lehrerinnen und Dr. Scholten in der großen Pause in sein Büro. Auch die Lagermädelführerin hatte er rufen lassen.
Verwundert über die ungewöhnliche Zeit für eine Besprechung, fanden sich alle ein.
Aumann blätterte nervös in einem Aktenordner, schloss ihn schließlich und blickte auf. Er wirkte verstört. Ohne eine Begrüßung sagte er: »Ich muss Ihnen mitteilen, dass die Alliierten in der Normandie mit der Invasion begonnen haben. Sie versuchen, sich an der Atlantikküste festzusetzen und dort Brückenköpfe zu bilden. Unsere Truppen sind in schwere Abwehrkämpfe verwickelt, haben den Angreifern große Verluste zugefügt und werden sie sicher bald ins Meer zurückgetrieben haben.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Frau Brüggen.
Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Radio, das neben seinem
Weitere Kostenlose Bücher