So weit die Wolken ziehen
herumgeführt.
»Noch glaubt ihr nicht, Mädel, dass es sich hier wirklich um einen Schatz handelt. Aber es ist so. Die Blaubeeren sind Frau Zitzelshauser und auch mir so viel wert, dass ihr für die Arbeit, diesen Schatz zu bergen, fürstlich belohnt werdet. Irmgard Zarski und Anna Mohrmann haben etwas heraufgetragen. Das soll später nicht wieder nach unten geschleppt werden. Es sind nämlich wunderbare dicke Milchkaramellen, von der Hauswirtin selbst hergestellt, die stehen für euch bereit. Für jede volle Blechtasse, die bei Irmgard und Anna abgegeben und in einen Eimer ausgeleert wird, gibt es eine dieser Leckereien. Frau Zitzelshauser hat übrigens gesagt, dass die Tassen viel schneller voll werden, wenn ihr beim Pflücken den Mund spitzt und pfeift. Aber weil ihr dann wahrscheinlich doch wieder bei dem kleinen Matrosen oder Zarah Leander landet, wollen wir darauf verzichten. Und jetzt: Los geht’s.«
Ganz so viele Süßigkeiten, wie die Mädchen vielleicht erwartet hatten, gab es dann doch nicht. Die Beeren waren in diesem Jahr zwar nicht winzig geblieben, doch es dauerte viel länger, eine Tasse zu füllen, als sie gedacht hatten.
Als Ruth ihre zweite Karamelle bekam, lief sie hinauf zu Esther und schenkte sie ihr.
»Kannst mir ja beim Pflücken helfen«, bot Ruth an. »Dann teilen wir unseren Lohn.«
Frau Salm lachte und sagte: »So weit kommt das noch. Wir müssen für uns selbst sammeln. Die Lebensmittelzuteilungen werden immer knapper. Blaubeeren, das gibt Marmelade für den Winter.«
»Im Quellenhof müssen wir hoffentlich nicht so lange warten. Blaubeerpfannkuchen schmecken auch heute schon.«
»Da hätte eure Hauswirtin aber viel zu tun, wenn sie für so viele Schülerinnen Blaubeerpfannkuchen backen wollte«, sagte Frau Salm.
»Ich kenne Frau Zitzelshauser«, entgegnete Ruth. »Die macht das bestimmt.«
Sie sollte recht behalten. Am nächsten Morgen stand auf dem Speiseplan Mittagessen: Blaubeerpfannkuchen.
Für jedes Mädchen gab es zwei Pfannkuchen. Sie waren zwar in der kleinen Pfanne gebacken worden, aber alle wurden satt. Nach dem Essen ging Frau Zitzelshauser, wie sie das ab und zu machte, zwischen den Tischreihen durch und fragte: »Na, hat’s euch gemundet?«
Ruth Zarski rief laut in den Speisesaal hinein: »Frau Zitzelshauser, heute hat es geschmeckt wie bei unserer Mutter.« Alle klatschten Beifall.
Frau Zitzelshauser ging in die Küche zurück, drehte sich aber an der Tür noch einmal um und sagte: »Ihr habt wirklich sehr fleißig Beeren gepflückt, Kinder. Wir konnten einunddreißig große Gläser Marmelade einkochen. Im Winter, zum ersten Mal am Nikolaustag, werdet ihr davon probieren können.«
Das ist ja noch ein halbes Jahr hin, dachte Anna. Hoffentlich sind wir dann schon längst wieder zu Hause.
Am Mittwochnachmittag gegen drei Uhr durfte Ruth Esther Salm besuchen. Sie wunderte sich, dass Esther und ihre Mutter immer allein waren. Nie hatte sie bemerkt, dass aus Maria Quell oder aus dem Dorf jemand anklopfte. Auch der Briefträger konnte sich den Weg sparen. Die Salms bekamen nie Post. Frau Salm ging jeden Freitag ins Dorf und kaufte für die Woche ein.
Hinter dem Haus lag ein kleiner Garten. Aber Frau Salm schien wenig Übung in der Gartenarbeit zu haben. Einmal hatte Ruth ihr angeboten, sie könne ihre Freundin Anna mitbringen, die kenne sich aus, denn zu Hause in Oberhausen hätten die Mohrmanns eine Gärtnerei, doch das hatte Frau Salm nicht gewollt.
An diesem Mittwoch jedoch entdeckte Ruth einen Mann bei der Gartenarbeit. Zum Tee hatte Frau Salm vier Tassen aufgestellt. Sie bat den Mann ins Haus. Ruth erkannte ihn sofort. Es war der mit den schwieligen Händen, der am 1. Mai die Rede gehalten hatte. Er zog seine Schuhe aus, wusch sich in der Küche die Hände und setzte sich zu ihnen.
»Na«, fragte er, »bist du nicht das Mädchen, das meine Hände betatscht hat?«
Ruth nickte.
»Sie hat gesagt, meine Schwielen wären hart wie Stein«, sagte er zu Frau Salm. »Hatte wahrscheinlich vorher nie Arbeiterhände gesehen.«
»Doch«, widersprach Ruth. »Hab ich oft gesehen. Bei meinem Papa. Der hatte zwar nicht so riesige Bratpfannenhände wie Sie, aber Schwielen hatte er auch.«
Herr Nowotny wunderte sich. »Hat dein Papa denn mit den Händen gearbeitet? Ich dachte, in euerm schönen Hotel leben keine Mädchen aus Arbeiterfamilien.«
»Mein Papa war Schlosser in einer Fabrik.«
»Aha. Schlosser war er. Und wo steckt er jetzt?«
»Genau weiß ich es nicht.
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