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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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die Reisenden ausstiegen, entdeckten die beiden Frauen gleich ihre Mädchen in der Bahnhofshalle: grau die Gesichter, müde ihr Gang.
    »Sigrid? Lore?«, sprach Frau Krase sie an.
    Sie blickten auf.
    »Ja?«, sagte Lore leise.
    »Wir wollten euch holen, euch und die ganze Gruppe.«
    Die beiden Mädchen schluchzten auf und umarmten die Frauen. Die ganze Klasse konnte mit demselben Zug ins Dorf zurückfahren, mit dem Frau Krase und Schwester Nora gekommen waren. Sie fanden ein Abteil Für Reisende mit Traglasten. Alle drängten sich hinein. Bänke gab es nur rundum an den Wänden. Es wurde eng. »Wagen der vierten Klasse«, sagte die Schwester. »Die hat es früher öfter gegeben. Die Leute konnten Hühner, Ziegen und Schafe darin mit zu den Märkten nehmen. Aber die vierte Klasse war eigentlich schon längst ausrangiert. Genau wie unser neuer Lehrer Dr. Matheck. Er wurde auch vom Abstellgleis wieder hervorgeholt.«
    Kein Mädchen lachte. Die meisten schwiegen und es dauerte mehrere Tage, bis sie das eine oder andere von dem schweren Angriff auf die Stadt erzählen konnten.
    Nach und nach kam heraus, was es mit der Soldatenbetreuung auf sich gehabt hatte.
    »Ein kriegsentscheidender Dienst«, spottete Sigrid. »Wir mussten Berge von Soldatenpullovern mit der Hand waschen. In manchen klebte noch verkrustetes Blut. Sie waren erst halb trocken, als wir die Löcher darin stopfen sollten. Und dann …« Sie verstummte und niemand drängte sie weiterzuerzählen.
    Esther war seit dem Sommer in die Höhe geschossen und inzwischen fast einen Kopf größer als Ruth. An diesem Mittwoch kam Ruth gerade im Haus am Hang an, als Frau Salm die letzte Naht an einem Kleid genäht hatte und die Nähmaschine zuklappte. Sie hatte eines ihrer eigenen Kleider auseinandergetrennt und aus dem Stoff geschickt ein neues für ihre Tochter genäht.
    »Wir wollen mal schauen, ob es gelungen ist«, sagte sie. »Jetzt veranstalten wir für Ruth eine Modenschau.«
    Esther zog zuerst ihren Pullover aus, dann den Rock und faltete ihn zusammen. »Das ist ein schönes Kleid geworden«, sagte Ruth. »Es passt wie angegossen.«
    Sie schaute auf ihren eigenen Rock, den sie schon im letzten Winter getragen hatte. Der war inzwischen zu kurz geworden. Fast alle Kinder hatten immer mal wieder ein Paket von zu Hause bekommen, in dem sie etwas Neues zum Anziehen fanden. Es war ausgemacht, dass die Kleiderkarte der Kinder bei den Eltern blieb und sie für die notwendigen Textilien zu sorgen hatten. Das letzte Paket für Ruth und Irmgard war im Mai angekommen. Es enthielt für jedes Kind ein kurzärmeliges Sommerkleidchen und etwas Unterwäsche. Für Irmgard war auch ein Büstenhalter dabei, den sie den Mädchen gleich vorgeführt hatte. Das Sommerkleid lag inzwischen in Ruths Koffer. Es war zu eng geworden und auch nicht warm genug für den Winter. Ihren dunkelblauen Pullover hatte sie an den Ärmeln selbst mehrfach stopfen müssen. Weil sie keine Wollfäden in der passenden Farbe gefunden hatte und die gestopften Stellen ganz und gar nicht akkurat aussahen, hatte Anna ihr aus einem Stofffetzen zwei Herzen ausgeschnitten und darübergenäht. Frau Brüggen hatte Ruth zu sich herangewinkt und leise zu ihr gesagt: »Wenn es wieder etwas zu stopfen gibt, dann komm zu mir. Ich zeige dir dann, wie man es besser macht.«
    Esther sollte das neue Kleid wieder ausziehen, aber sie sagte: »Mama, ich werde die alten Sachen nie mehr anziehen. Sie lachen in der Klasse schon über mich und sagen, ich würde meine Beine nur deshalb so weit aus dem Rock rausstrecken, damit die Jungen aus dem Dorf hinter mir herschauen.«
    Frau Salm fragte: »Würden dir die Sachen passen, Ruth?«
    Esthers Schottenrock und den roten Pullover hatte Ruth oft heimlich bewundert.
    »Ich glaube schon«, antwortete sie.
    »Dann probier sie nur an.«
    Die Unterwäsche war viel zu dünn für das kalte Novemberwetter. Schnell streifte Ruth Esthers abgelegte Sachen über. Der Rock war ein wenig zu eng, aber der Pullover war wie für sie gestrickt.
    »Eigentlich wollte ich den Pullover aufribbeln und für Esther rote Socken daraus stricken. Aber weißt du, was, Ruth, wir überlassen dir die Sachen für diesen Winter. Ribbeln können wir auch nächsten Sommer noch.«
    Als Ruth Pullover und Rock wieder auszog und ihre alten Sachen überstreifte, fragte Frau Salm: »Willst du sie nicht?«
    »Doch, doch, Frau Salm. Gern will ich sie. Und ich danke auch dafür. Aber ich werde sie erst am nächsten Sonntag zum

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