So weit die Wolken ziehen
ersten Mal tragen. Dann ist nämlich mein Geburtstag. Ein schöneres Geschenk als Esthers Sachen werde ich wohl nicht bekommen.«
Sie fuhr mit der Hand behutsam über den Pullover. Da entdeckte sie am Kragen ein kleines Firmenschild. Sie las halblaut: »Salomon Mayer, Salzburg.«
Frau Salm zuckte zusammen.
»Haben Sie den Pullover in einem jüdischen Geschäft gekauft?«, fragte Ruth.
»Ich weiß es nicht mehr genau«, antwortete Frau Salm. »Bevor aus Österreich die Ostmark wurde und wir heim ins Reich kamen, hatte niemand etwas dagegen, wenn man bei Salomon Mayer kaufte.«
»Hat er Sie denn nicht betrogen und zu viel Geld für den Pullover verlangt?«
»Kind, es war in Salzburg bekannt, dass man bei Mayer preiswerte und gute Ware angeboten bekam.«
Ruth wollte schon den Pullover zu dem Rock legen, da sagte Frau Salm: »Ich werde das Schildchen vorsichtig heraustrennen. Heute glauben ja viele, dass die Juden, na, wie soll ich sagen …«
»Pater Lukas hat gesagt, Juden sind Menschen.«
»So, hat er das gesagt?«
»Ganz bestimmt, Frau Salm.«
Frau Salm nahm vorsichtig eine Rasierklinge zwischen zwei Finger, doch ihre Hand zitterte so stark, dass sie sich nicht traute, damit die Fäden durchzutrennen. Sie griff nach ihrer Schneiderschere, schnitt das Schildchen heraus und warf es in das Herdfeuer. Plötzlich wurde ihr Gesicht merkwürdig starr. »Salomon Mayer im Feuerbrand«, murmelte sie. Sie ging mit den Sachen in das Nebenzimmer und blieb lange dort. Als sie zurückkam, hielt sie ein Päckchen in der Hand. »Ich habe dir den Rock etwas weiter gemacht und die Sachen eingepackt, Ruth. Ich freue mich, dass sie dir passen.«
»Warum ist Esther eigentlich nicht dabei, wenn wir bei uns im Quellenhof unsere Hausarbeiten machen? Sie kommt auch nie, wenn an den Nachmittagen gespielt oder gesungen wird«, fragte Ruth.
»Weißt du, Ruth, ich bin mit Esther allein hier oben und die Zeit wird mir oft lang«, antwortete Frau Salm. »Da habe ich Esther gern um mich. Ich hoffe, sie ist auch ohne das Silentium eine gute Schülerin.«
»Ja«, gab Ruth zu. »Sie soll zu den besten in ihrer Klasse gehören. Aber dass sie nicht einmal mit ins Dorf gehen durfte, als der Film Reitet für Deutschland gezeigt worden ist …«
»Ja, das war schade«, sagte Esther. »Ich hätte Willy Birgel auch gern gesehen.«
Im Quellenhof ordnete Ruth die Schätze in ihr Spind ein. Doch Frau Salm hatte es nicht bei dem Pullover und dem Rock belassen. Ein langärmeliges Unterhemd und eine Wollhose hatte sie noch dazugelegt.
Am Sonntag war Ruths Platz am Frühstückstisch mit Tannenzweigen geschmückt und sie durfte sich ein Geburtstagslied wünschen. »Es blies ein Jäger wohl in sein Horn«, rief sie, »aber bitte nur die erste Strophe. Sonst wird der Tee kalt.«
»Hast du ein Paket von Mutter bekommen?«, fragte Irmgard.
»Nein. Und auch von Frau Brüggen hab ich die neuen Kleider nicht.«
Obwohl Irmgard noch mehrmals wissen wollte, woher die Sachen kamen, verriet ihre Schwester es nicht.
»Bestimmt eine Spende der Winterhilfe«, sagte Anna.
»’ne Spende, ja, das stimmt, wirklich, es war ’ne Spende.«
An dem Tag, als Dr. Scholten sich am Nachmittag für den Volkssturm im Dorf melden sollte, hatte es zum ersten Mal geschneit. Ein wässriger Schnee bedeckte das Land. Die Mädchen bauten Schneemänner.
»Warum eigentlich immer nur Schnee männer? «, fragte Heidrun Czech. »Lasst uns doch mal Schnee frauen bauen.«
»Ach, Heide«, antwortete Anna übermütig, »hast du es denn noch nicht gehört? Wenn der Krieg vorbei ist, sollen sechs Frauen auf einen Mann kommen. Was bleibt uns denn anderes übrig, als uns selbst Männer zu bauen?«
»Du kannst es wohl nicht abwarten, bis dir einer nachläuft, wie?«, sagte die LMF.
»Ich möchte aber keinen aus Schnee«, rief Irmgard. »So einen kalten Kerl im Bett, nee, das würde mir nicht gefallen.«
»Wirst noch froh sein, wenn dir überhaupt einer deinen BH aufknöpft«, sagte Hilde.
»Jetzt aber Schluss.« Und das sollen die wohlerzogenen Frauen von morgen sein?, dachte Heidrun Czech.
Vielleicht hätten die Mädchen das Spiel mit Wörtern noch weitergetrieben, aber da kam Dr. Scholten vorbei.
»Kalt heute«, sagte er im Vorübergehen und schlug den Kragen seines Sommermantels hoch. Er ging zum Kloster. Vielleicht konnte Pater Martin ihm einen Rat geben, wie er sich verhalten sollte, wenn sie ihn als Volkssturmmann an die Front schicken wollten.
»Was soll ich dazu sagen?«,
Weitere Kostenlose Bücher