So weit die Wolken ziehen
fragte der Pater. »Ich habe gehört, dass die ganz alten und die kränklichen Männer hier in der näheren Umgebung zum Einsatz kommen sollen.«
»Dann kann ich ja nur hoffen, dass ich dazugehöre. Ich bin mager wie ein Hering und wiege gerade noch fünfundsechzig Kilo. Außerdem ist mein Brustkorb ziemlich eingedrückt. Wie so viele im Ruhrgebiet hatte ich als Kind eine schwere Rachitis. Immerhin hat mich die englische Krankheit, wie meine Mutter sie nannte, auf das Gymnasium gebracht. Der Junge taugt nicht für richtige Arbeit , hat sie zu meinem Vater gesagt. Vielleicht kann er mal Lehrer werden.«
Der Pater lachte. »Jetzt weiß ich auch, lieber Herr Doktor, warum Sie im Schwimmbad stets wie die Männer anno dazumal einen hochgeschlossenen Badeanzug tragen. Ist es bei Ihrer angeschlagenen Gesundheit nicht ziemlich leichtsinnig, wenn Sie mit ihrem dünnen Mantel durch dieses Wetter laufen? Der Eiswind wird Ihnen durch die Rippen blasen.«
»Hat er schon«, bestätigte Dr. Scholten. »Aber meinen Wintermantel aus dem Vorjahr habe ich meiner Frau nach Detmold geschickt. Er sollte geflickt werden, denn der Kragen war durchgescheuert. Sie hat ihn zwar ausgebessert und bei der Post aufgegeben, aber hier angekommen ist er nicht.«
»Dann wollen wir uns erst mal von innen wärmen.« Der Pater holte eine Flasche aus dem Schrank.
»Aber bitte nur einen«, bat Dr. Scholten. »Mit einer Schnapsfahne würde ich nicht gern vor der Kommission erscheinen.«
Sie tranken den Johannisbeerschnaps in kleinen Schlucken.
»Vielleicht doch ganz gut, wenn ich mir Mut antrinke«, sagte Dr. Scholten.
Der Pater schüttete ihm ein zweites Gläschen ein.
»Die innere Kälte hätten wir besiegt, Herr Doktor. Aber ich glaube, ich kann auch etwas gegen die äußere Kälte tun.« Der Pater verließ das Besucherzimmer und kehrte kurz darauf mit einem dunkelgrauen Lodenmantel über dem Arm zurück. »Ziehen Sie den doch mal an.«
»Ich kann doch nicht …«
»Nun machen Sie schon.« Pater Martin hielt ihm den Mantel auf.
»In den Schultern und überhaupt ein bisschen zu weit. Pater Heinrich war doch fülliger als Sie. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, diesen Mantel zu tragen, können Sie das gute Stück gern mitnehmen.«
»Aber was wird Ihr Mitbruder dazu sagen, wenn Sie so mir nichts, dir nichts seinen fast neuen Mantel weggeben?«
»Er wird überhaupt nichts mehr sagen. Er ist in Frankreich bei der Versorgung eines Verwundeten von einem Granatsplitter getroffen worden und war sofort tot. Es war übrigens eine deutsche Granate, die in der Nähe einschlug. Die Infanterie war schneller vorgestoßen, als unsere Artillerie es für möglich gehalten hatte.«
»Trotzdem, Pater Martin, ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich diesen Mantel tragen soll.«
»Das Gefühl wird sich bestimmt ändern, wenn das Thermometer starken Frost anzeigt. Außerdem war Pater Heinrich ein fröhlicher Mensch. Er wird mir vom Himmel her zuzwinkern, wenn er mitbekommt, was ich mit seinem guten Stück gemacht habe.«
Unten im Dorf fand die Musterung der alten Männer und der Jungen statt. In alphabetischer Reihenfolge wurden sie immer zu zweit in den Wirtshaussaal gerufen. Nackt standen sie vor insgesamt zehn Männern. Es waren teils Offiziere, teils in weiße Kittel gekleidete Wehrmachtsärzte. Von einer Untersuchung konnte keine Rede sein. Die Fleischbeschau nach dem Schlachten von Schweinen geschieht gründlicher, dachte Dr. Scholten.
»Stehen Sie gerade! … Brust raus! … Umdrehen! Bücken!«
Fast immer lautete das Urteil: »KV. Abtreten.«
Dr. Scholten erwartete auch für sich nichts anderes als die Beurteilung KV, kriegsverwendungsfähig.
»Sind Sie nicht der Leiter des KLV-Lagers im Quellenhof?«, fragte ihn einer der Ärzte.
Nicht ganz der Wahrheit entsprechend antwortete Dr. Scholten leise: »Ja.«
»Wie bitte? Sprechen Sie laut und deutlich!«
»Jawoll«, rief er.
»Na, geht doch«, sagte der Arzt. »Sie sind eingeschränkt verwendungsfähig.«
Dr. Scholten wusste nicht, was das bedeutete. Im Vorraum, in dem noch etliche Männer auf ihre Musterung warteten, fragte ihn ein Mann: »Na, was haben die da drin gesagt?«
»Eingeschränkt verwendungsfähig.«
»Glückwunsch. Sie werden dann, wenn Not am Mann ist, nur in der näheren Umgebung die Heimat verteidigen müssen.«
Dr. Scholten atmete auf und empfand wirklich so etwas wie ein Glücksgefühl, obwohl ihm klar war, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, bis die Russen
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