So weit die Wolken ziehen
antwortete der Junge. »Der war im letzten Krieg Feldwebel. Jetzt ist er der Chef des Volkssturms geworden.«
»Und wer bist du?«
»Ich heiße Franz-Josef. Kennst mich denn nicht mehr? Ich war doch in der achten Klasse in der Schule im Dorf unten.«
»Hab dich nicht erkannt, Franzl. Bist ja mächtig in die Höhe geschossen. Und mager bist du, wie eine Bohnenstange.«
»Und du hast immer noch ein freches Maul.«
»Das hat meine Mutter auch oft gesagt. Aber sie hat dabei gelacht.«
Franzl schüttelte den Kopf und ging zum nächsten Schaukasten. Diese Preußen, dachte er, die sind alle frech wie Rotz. Aber zum Glück ist meine Christel aus dem Dorf eine von uns.
Mitte Oktober teilte Direktor Aumann den Schülerinnen mit, dass Generalfeldmarschall Rommel an den Folgen eines Autounfalls in einem Lazarett in Frankreich gestorben sei. Die meisten Mädchen waren von dieser Nachricht tief berührt. Manche hatten an der Tür ihres Spinds ein Foto vom Wüstenfuchs angeheftet. Lydia klebte einen schwarzen Papierstreifen über die rechte obere Ecke ihres Rommel-Bildes.
»Ob Deutschland den Krieg wirklich noch gewinnen kann?«, fragte Lydia in die Stube hinein. Keines der Mädchen wusste eine Antwort darauf. Die Angst wuchs. Sie kroch des Nachts aus allen Ecken und bedrängte die Mädchen in schweren Träumen.
Die wachsende Verunsicherung der Schülerinnen war auch Frau Lötsche nicht verborgen geblieben. Sie überlegte, was getan werden könnte, um die Mädchen aufzumuntern. Ihr fiel die zuständige Stelle der Reichsfilmkammer in der Stadt ein. Im Saal des Dorfgasthofs Zu den vier Linden wurden in gewissen Abständen Spielfilme vorgeführt. Gelegentlich hatte es sogar nachmittags eine Sondervorführung für den Quellenhof gegeben. Frau Lötsche telefonierte mit dem Leiter der Stelle und schilderte ihm die niedergedrückte Stimmung im Haus. Vielleicht verfüge er über einen Film, der zu einer Aufheiterung der Schülerinnen beitragen könne. Sie denke an einen Film mit den Schauspielern Hans Moser oder Heinz Rühmann.
Der Leiter schlug ihr vor: »Liebe Frau Lötsche, ich habe etwas für Sie. Es ist zwar kein lustiger Film und er ist auch nicht ganz neu, aber er wird die gewünschte Wirkung auf ihre Schülerinnen nicht verfehlen. Willy Birgel spielt grandios die Hauptrolle. Er ist der Schwarm vieler Frauen. Wenn dann noch Pferde dazukommen, ist dieser Film die perfekte Lösung für Ihr Problem. Sie kennen den Titel vielleicht. Er heißt Reitet für Deutschland.«
»Ich habe davon gehört«, bestätigte Frau Lötsche. »Sie haben die größere Erfahrung. Ich möchte Sie nur bitten, keine Wochenschau zu zeigen, in der das Staatsbegräbnis von Rommel vorkommt. Das würde die Mädchen nur erneut aufwühlen.«
»Keine Sorge. Wir haben Wochenschauen, die Siege unserer Soldaten zu Wasser, zu Land und in der Luft bringen. Moment, ich blättere eben in meinem Kalender. Was würden Sie zu Freitag, 27. Oktober, um fünfzehn Uhr sagen?«
»Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. Wir werden pünktlich da sein.«
»Sie selbst auch, Frau Lötsche?«
»Selbstverständlich. Ich bin eine Frau und ich mag Pferde.«
»In diesem Falle werde ich mir erlauben, den Film ausnahmsweise selbst vorzuführen. Man sagt mir nämlich nach, ich sehe ihm ähnlich.«
»Dem Pferd oder dem Schauspieler?«
»Aber Frau Lötsche! Ich bin die jüngere Ausgabe von Willy Birgel.«
»Sie machen mich neugierig.«
»Also dann bis Freitag.«
Die Ankündigung im Speisesaal, dass ein Spielfilm mit Willy Birgel gezeigt werden sollte, löste Beifall aus.
»Der Birgel ist genau mein Typ«, rief Irmgard laut. Viele lachten. Selbst Frau Krase, die ähnliche Störungen sonst bestrafte, konnte nicht ernst bleiben.
Als aber Ruth genauso geräuschvoll sagte: »So ein alter Knacker, der wäre nichts für mich«, und daraufhin fröhlicher Lärm aufbrandete, stand die Lehrerin auf und fragte scharf: »Wer ist der Schreihals gewesen?«
Irmgard und Ruth standen gleichzeitig auf. Frau Lötsche zupfte ihre Kollegin am Ärmel und sagte leise: »Diesmal bitte keine Strafen, Frau Krase.«
Leicht irritiert mahnte Frau Krase: »Natürlich, wieder die beiden Zarski-Mädchen. Jetzt ist aber Schluss mit dem Spektakel. Setzt euch.«
»Wir brauchen eine bessere Stimmung«, sagte Frau Lötsche.
»Wenn Sie meinen«, antwortete Frau Krase. Sie machte ein mürrisches Gesicht. Es war nicht üblich, dass Kolleginnen und Kollegen vor den Schülerinnen unterschiedliche Meinungen
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