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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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die »nähere Umgebung« erreicht hatten.
    Es kam in den letzten Wochen gelegentlich vor, dass Mütter von Schülerinnen in Maria Quell auftauchten und ihre Tochter mitnehmen wollten. Direktor Aumann versuchte, ihnen das zwar auszureden, aber er hatte weder eine rechtliche Handhabe noch überzeugende Gründe, ein Mädchen gegen den Willen der Mutter im Quellenhof behalten zu können. Hilde, die in dem Bett neben Gerda schlief, kam eines Abends aufgeregt in die Stube und begann, ihre Sachen aus dem Spind zu räumen und in den Koffer zu packen.
    »Meine Mutter ist gerade gekommen. Sie will mich mitnehmen.«
    »Was sagst du denn selbst dazu, Hilde?«, fragte Anna.
    »Das wollte Aumann vorhin auch von mir wissen. Aber was soll ich dazu sagen?«
    »Mensch, Hilde, zurück nach Oberhausen?«, sagte Gerda. »Von dort sind es gerade mal hundert Kilometer bis zur Grenze nach Aachen. Und in Aachen sind schon die Amis.« Sie holte einen Brief aus ihrem Spind. »Hier, in dem Brief, den ich vorgestern von zu Hause bekommen habe, steht es: Fast jeden Tag bombardieren sie unsere Städte im Ruhrgebiet.«
    »Meine Mutter hat zwei Zimmer bei meiner Tante in Veitshöchheim bei Würzburg mieten können. Würzburg liegt mitten in Deutschland. Meine Mutter hat zu Aumann gesagt, wenn der Feind sogar bis Würzburg kommen sollte, will ich mit meiner Tochter zusammen sein. Und wenn der Krieg zu Ende ist, wollen wir uns alle in Veitshöchheim treffen. Aumann hat ihr geantwortet, an so etwas dürfe sie nicht einmal denken. Aber der kennt meine Mutter schlecht. Die würde mich sogar aus der Hölle herausholen.«
    »Wieso aus der Hölle?«, fragte Ruth.
    »Ihr Katholischen glaubt doch, dass wir Protestanten alle in der Hölle landen«, antwortete Gerda spitz.
    Anna und Gerda halfen Hilde beim Packen. Die Tränen flossen. Hildes Mutter klopfte an, öffnete die Tür und fragte: »Na, bist du fertig, Kind?«
    Zwei Mädchen aus der Klasse, in die auch Anna, Lydia und Irmgard gingen, sollten in die Stube 215 verlegt werden. Das hatte Frau Czech vorgeschlagen. Aber weil ja nur das Bett von Hilde frei geworden war, meinte sie, Ruth solle endlich in das untere Geschoss umziehen. Dort schliefen ja auch alle anderen Mädchen aus der Eingangsklasse. Ruth fühlte sich zwar inzwischen in ihrer neuen Klasse wohl, aber sie wehrte sich trotzdem, ihr Bett zu räumen.
    »Es war doch nur ein Vorschlag«, versuchte Anna ihr Mut zuzusprechen. »Vorschläge kann man annehmen oder ablehnen.«
    »Mach Ruth nicht verrückt«, sagte Irmgard. »Ein Vorschlag von Heide ist wie ein Befehl von einem General. Ruth wird sich fügen müssen.«
    »Du willst mich ja nur loswerden«, fuhr Ruth ihre Schwester an. »Ich war dir immer schon lästig.«
    »Red keinen Unsinn, Ruth. Alle wohnen mit ihren Klassenkameradinnen zusammen. Aber mein Schwesterchen meint mal wieder, sie wäre etwas Besonderes.«
    »Gut, dann geh ich eben. Aber das sage ich euch, ich komme nie, nie wieder zu euch in dieses Zimmer.«
    Nach dem Abendessen erfuhren die Mädchen, dass Adolf Hitler sein Hauptquartier in Ostpreußen, die Wolfsschanze, verlassen hatte.
    »Ich glaube, jetzt wird es ernst«, sagte Dr. Scholten am Abend zu Schwester Nora. »Ich werde eine Kiste mit Sachen packen, die ich hier nicht mehr brauche. Meine Sommerkleidung ist mir nur im Weg, wenn wir mal Hals über Kopf wegmüssen. Auch einige Bücher, die mir ans Herz gewachsen sind, kommen hinein, die kleine Münzsammlung und die Fotos. Ich werde alles zu meiner Schwiegermutter schicken.«
    »Wohnt wohl auch an einem sicheren Ort«, spottete die Schwester.
    Er lachte. »Nicht gerade ganz sicher, aber Lippe-Detmold ist schon was Besonderes. Das jedenfalls hat mir meine Frau wiederholt geschrieben. Sie ist dort aufgewachsen und wohnt, seit ich mit der Schule hierhermusste, in ihrem Elternhaus in der Nähe von Detmold bei ihrer Mutter und ihrer Schwester.«
    »Und du glaubst wirklich, dass es noch einen sicheren Platz in Deutschland gibt, Otto?«
    »Dort hat es noch keinen einzigen Bombenangriff gegeben, Nora. Bielefeld, Kassel, Hannover und Paderborn liegen nicht weit weg von Detmold. Alle diese Städte sind zerstört worden. Detmold wurde verschont, obwohl die Häuser in der Altstadt dicht an dicht stehen. In solchen Städten entwickelt sich leicht ein Feuersturm. Die Bomberflotte fliegt gerade solche Ziele oft an und dann regnet es Brandbomben. Meine Schwiegermutter sagt, das liegt daran, dass das englische Königshaus verwandtschaftlich eng mit

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