So weit die Wolken ziehen
dem Land Lippe und dem lippischen Fürstenhaus verbändelt ist.«
»Blut ist dicker als Wasser, Otto. Vielleicht hat sie recht.«
Zehn Tage später bat Dr. Scholten Anna und Lydia, ihm zu helfen, seine Kiste mit dem Handwagen zum Bahnhof zu bringen. Sie mussten lange vor dem Gepäckschalter warten, bis die Fracht angenommen wurde. Dr. Scholten bedankte sich bei den Mädchen und sagte: »Ihr seid ja richtig durchgefroren. Hier, ich gebe euch eine Mark. Ihr könnt im Roten Hirschen eine heiße Brühe trinken, bevor ihr zum Quellenhof zurückgeht. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
Sie stellten den Wagen im Hof des Gasthauses ab. Lydia fragte die Wirtin vorsichtshalber, ob die Brühe ohne Lebensmittelkarte zu haben sei.
»Wäre ja noch schöner, wenn es sogar das warme Wasser nur noch auf Marken gäbe«, war ihre mürrische Antwort.
»Ob Onkel Otto von hier verschwinden will?«, fragte Lydia ihre Schwester.
»Der doch nicht«, antwortete Anna. »Onkel Otto muss zum Volkssturm. Der darf gar nicht weg. Du weißt doch, mit denen, die abhauen, wird kurzer Prozess gemacht. Erschossen oder aufgehängt, habe ich gehört. Onkel Otto lässt uns nicht im Stich. Der wird bestimmt mit uns in den Stollen gehen, wenn die Russen wirklich bis zu uns vordringen sollten.«
»Was für ein Stollen, Anna?«
»Gerda will im Dorf gehört haben, dass weit oben in der Nähe des Eisenbahntunnels für uns ein Stollen gegraben wird. Wenn die Russen kommen, dann werden wir dort untergebracht. Essen für drei Wochen soll vorhanden sein.«
»Warum für drei Wochen?«
»Na, bis unsere Soldaten die Russen wieder zurückgeworfen haben. Das kann doch wohl auf keinen Fall länger als zwei, drei Wochen dauern.«
»Glaubst du das wirklich mit dem Stollen, Anna?«
Anna zog die Schultern hoch.
»Das will ich genau wissen«, sagte Lydia.
»Willst du Aumann fragen?«
»Quatsch. Der sagt doch nichts.«
»Wie willst du dahinterkommen?«
»Wart’s ab, Anna.«
Es begann, heftig zu schneien. Vor dem Quellenhof waren inzwischen Skier abgeladen worden, aber es waren weniger als im letzten Winter und sie reichten längst nicht für alle Mädchen.
Am nächsten Morgen lag der Schnee zwanzig Zentimeter hoch. Die LMF verkündete beim Frühstück, der Unterricht wäre nach der zweiten Stunde zu Ende. Den älteren Mädchen würden die Skier für drei Tage zugeteilt. Die anderen kämen anschließend an die Reihe.
Dr. Scholten hatte gerade mit seinem Unterricht begonnen, da klopfte es an die Tür. Der Junge, der den alten Bartel als Bote ersetzen musste, gab ihm einen Zettel. Dr. Scholten las ihn durch und legte ihn auf das Pult.
»Was soll ich Feldwebel Bartel melden?«, fragte der Junge.
»Ich werde in einer Stunde am Treffpunkt sein.«
»Die Schaufel nicht vergessen.«
Dr. Scholten griff noch einmal nach dem Zettel und murmelte: »Schaufel muss mitgebracht werden. Mal sehen …«
»Was soll ich nun sagen?«, drängte der Junge ungeduldig.
»Ist in Ordnung«, antwortete Dr. Scholten. »Mal sehen, wo ich eine Schaufel auftreiben kann.«
Der Junge grüßte mit »Heil Hitler« und ging hinaus.
»Müssen Sie etwa Schnee schippen, Herr Doktor?«, fragte Irmgard.
»Das wohl nicht. Bevor ich aufbreche, will ich euch noch sagen, wie ihr weiterarbeiten könnt.« Er nannte den Mädchen zwei Seiten im Biologiebuch.
»Die Rassenlehre«, sagte er. »Ihr findet in diesem Kapitel alles, was man heute darüber wissen soll. Schreibt eine Inhaltsangabe und formuliert dann zu diesem Thema zehn Fragen und Antworten. Prägt euch alles gut ein, was dazu in diesem Buch steht. Dieser Stoff wird in jeder Prüfung abgefragt.«
»Ich habe schon jetzt zur Rassenlehre einige Fragen, Herr Doktor«, sagte Anna.
»Ich auch«, antwortete Dr. Scholten. »Aber ihr habt es sicher gerade gehört, ich bin zum Einsatz abkommandiert worden. Also, macht keinen Lärm. Sonst kommt der Direktor noch auf den Gedanken, euch doch kein Schneefrei zu geben.«
»Bestimmt müssen Panzergräben ausgehoben werden«, vermutete Anna.
»Oder unser Stollen«, sagte Gerda.
»Stollen? … Was für ein Stollen? … Ein Stollen für uns?« Die Stimmen schwirrten durcheinander.
»Seid leise«, mahnte Anna, »sonst können wir das Skilaufen in den Mond schreiben.«
Pünktlich um zehn Uhr wurde die Glocke geläutet. Die Mädchen zogen Jacken und Mäntel über und strömten hinaus.
Die hohen Winterschuhe, die sie im letzten Jahr beim Skilaufen getragen hatte, waren Lydia zu klein geworden. Sie zog
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