So weit die Wolken ziehen
geschwollen.«
Während alle anderen draußen im Schnee herumtollten, saßen Lydia und Anna im Haus ihre Strafe ab. Lydia musste Formulare abschreiben, Anna wurde zum Bügeln in den Wirtschaftsraum gerufen. Frau Krase hatte die Aufsicht übernommen.
Lydia fragte sie: »Kann ich mit meiner Schreibarbeit auch in den Wirtschaftsraum gehen? In unserer Stube ist es kalt.«
Frau Krase nickte. Lydia setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Der Wirtschaftsraum lag neben der Küche und war angenehm warm. Die Küchentür wurde nicht geschlossen, weil Anna immer wieder die Bügeleisen austauschen und ein heißes vom Herd holen musste.
Frau Krase unterhielt sich in der Küche mit Frau Zitzelshauser. Die Lehrerin erzählte von den Bräuchen, die die Adventszeit an Rhein und Ruhr besonders für die Kinder so schön machten.
»Bei uns zu Hause gibt es ein besonderes Gebäck«, sagte sie. »Die einen nennen es Stutenkerl, die anderen Weckmann. Er wird nur für Sankt Martin und für den Nikolausabend gebacken. Manchmal werden Rosinen in den süßen Teig gemischt. Er wird zu einer Menschenfigur geformt und soll den Heiligen darstellen. Korinthenaugen hat er und mit Butter wird er bestrichen, damit er beim Backen schön braun wird.«
»Das Rezept müssen Sie mir aufschreiben, Frau Lehrerin. Ich sammle solche Rezepte für die Zeit, wenn es mal wieder alles zu kaufen gibt.«
Für eine Weile wurde es still in der Küche. Ab und zu hörten die Mädchen die Stimmen der beiden Ukrainerinnen Natascha und Galina. Sie konnten inzwischen ein bisschen Deutsch sprechen.
»Bei uns zu Hause hat Mutter auch Stutenkerle gebacken«, sagte Lydia. Ihr fiel auf, dass Anna häufig die Füße aneinanderrieb und dabei leise aufstöhnte. »Was hast du?«, fragte sie.
Anna reagierte nicht.
Lydia erinnerte sich, dass sie im Vorjahr eine leichte Erfrierung in den Zehen gehabt hatte. Jedes Mal, wenn die Füße warm geworden waren, juckte es unerträglich. Sie stand auf und ging in die Küche.
»Was gibt es?«, fragte Frau Krase.
»Meine Schwester kann nicht länger mit dem heißen Bügeleisen arbeiten. Das Jucken in den Zehen macht sie verrückt.«
Frau Krase reagierte unwirsch. »Misch dich nicht ein.«
»Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass ich das Bügeln übernehme. Anna kann in unserer kühlen Stube meine Schreibarbeit machen.«
»Misch dich nicht ein«, wiederholte Frau Krase aufgebracht.
»Frost in Zeh tut weh«, sagte Natascha. »Hab selbst gehabt in Heimat.«
»Schluss jetzt. Wenn dir das Schreiben nicht gefällt, kann ich den Hausarrest ja um zwei Tage verlängern. Dann wirst du hoffentlich kapiert haben, dass du an meinen Maßnahmen nicht herummäkeln sollst.«
Anna kam in die Küche. Sie knallte das Bügeleisen auf die Herdplatte und schleuderte einen Pantoffel vom Fuß. Dann streifte sie den Socken ab.
Lydia rief erbittert: »Da, Frau Krase, sehen Sie! Die Zehen! Dick geschwollen und rot. Anna hat Schmerzen.«
Die Lehrerin hatte sich wieder gefasst und sagte ruhig: »Das wird vergehen. Keine Diskussionen mehr. Geht an eure Arbeit.«
»Warten. Kurz Zeit. Warten«, sagte Natascha. Sie nahm eine Blechschüssel aus dem Regal und lief hinaus. Ein paar Minuten später brachte sie die Schüssel wieder in die Küche. Sie war mit Schnee gefüllt.
Natascha deutete auf Anna und auf einen Stuhl. Anna setzte sich. Natascha hockte sich vor sie hin und begann, den Fuß mit dem Schnee zu massieren. Dann machte sie auch Annas anderen Fuß frei und wiederholte die Behandlung. Zum Schluss hob sie die Beine des Mädchens ein wenig an, bückte sich und berührte mit ihren Lippen den Rist.
Frau Krase hatte interessiert zugeschaut. Als sie sah, dass Natascha Annas Füße küsste, wandte sie sich angeekelt ab. »Hör endlich auf mit dem Theater, Natascha«, schimpfte sie.
»Kuss muss sein. Gehört dazu, wenn heilen soll.«
Anna ging zu ihrem Bügelbrett zurück. Natascha setzte die Schüssel kurz auf die heiße Herdplatte. Bevor der Schnee geschmolzen war, brachte sie das kalte Wasser in den Wirtschaftsraum und gab Anna mit einer Geste zu verstehen, sie solle die Füße während ihrer Arbeit in das Wasser stellen. Anna folgte dem Rat. Tatsächlich ließ der Juckreiz nach.
Frau Krase schüttelte den Kopf und sagte zu Frau Zitzelshauser: »Fauler Zauber, nicht wahr?«
»Ach, Frau Lehrerin, manches Hausmittel hilft besser als jede Medizin. Ich werde mir das mit dem Schnee jedenfalls merken. Wenn wieder einmal jemand Frost in den Füßen hat
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