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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Oberhausen auch zum Film gekommen waren. Immerhin mussten sie dreißig Kilometer von ihrem KLV-Lager bis zum Dorf mit dem Zug fahren. Die Mädchen rätselten, ob wohl jemand aus dem Quellenhof eine Einladung ausgesprochen hatte. Weil selbst Frau Lötsche nichts wusste und alle im Kollegium beteuerten, sie hätten nichts mit dieser Sache zu tun, kam der Verdacht auf, eine der Schülerinnen hätte den Brief heimlich verfasst und eine unleserliche Unterschrift daruntergekritzelt.
    Das Urteil der Mädchen über diese »Milchbubis« fiel jedoch hart aus.
    »Die sind ja jünger als wir«, sagte Irmgard enttäuscht. »Die reinsten Kindsköpfe.«
    Gerda meinte: »Schade, dass nicht die Flakhelfer aus Wiener Neustadt eingeladen worden sind. Das sind Kerle, die ich mir gern angeschaut hätte.«
    »Nur angeschaut, Gerda?«, fragte Anna.
    »Vielleicht wäre ja einer für mich dabei gewesen. So einer, der sich schon jeden Tag rasieren muss und der Haare auf der Brust hat.«
    Lydia lachte und rief: »Gerda will einen Gorilla!«
    Es ging schon auf Mitternacht zu, als es in der Stube ruhiger wurde.
    Plötzlich kam Ruth ins Zimmer und fragte ihre Schwester: »Irmgard, wann haben wir eigentlich zuletzt Post von Mutter bekommen? Die Betty aus unserer Stube sagt, wenn man vier Wochen lang nichts von zu Hause gehört hat, dann ist bestimmt was passiert.«
    Irmgard antwortete heftig: »Deine Betty soll ihren Schnabel halten. Sie soll den Teufel nicht an die Wand malen und uns Angst machen.«
    »Nun sag schon, Irmgard, wann genau ist Post für uns gekommen.«
    Irmgard öffnete ihr Schrankfach. Alle Briefe, die sie geschickt bekommen hatte, waren mit einem blauen Band zusammengebunden. Sie warf das Bündel auf den Tisch. Ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst. All die verdrängten Ängste wallten mit einem Mal auf. Schon seit Anfang November war kein Lebenszeichen mehr aus Oberhausen gekommen. Nicht einmal eine Weihnachtskarte. Nichts. Gar nichts.
    »Was soll schon passiert sein?«, sagte Anna. Eigentlich wollte sie Ruth mit dieser Frage trösten.
    Die aber antwortete: »Betty meint, Bomben oder so.«
    »Sei endlich still!«, schrie Irmgard. Sie hielt sich die Ohren zu und warf sich aufs Bett. Ihre Schultern zuckten.
    Ruth traute sich nicht, das Briefbündel zu öffnen. »Steht da was Schlimmes drin?«, fragte sie und zeigte auf die Post.
    »Nein, nein«, antwortete Anna und nahm Ruth in den Arm. »Du weißt doch, die feindlichen Tiefflieger kommen immer öfter. Vielleicht ist der Postzug beschossen worden. Vielleicht ist der Postsack verbrannt. Vielleicht ist einem von der Post die Arbeit über den Kopf gewachsen und er hat einfach Briefe weggeworfen.«
    »Meinst du?«
    »Könnte doch sein, Ruth.«
    Irmgard hatte sich aufgerichtet und sagte leise: »Ich hoffe jedes Mal, wenn mittags die Post verteilt wird, dass Heide endlich mal unseren Namen aufruft. Ich würde einen Jubelschrei ausstoßen, egal, welche Strafe ich dafür bekäme. Aber dann wird der Stapel mit der Post in Heides Hand immer dünner und dünner, schließlich kommt der letzte Name. Und auch der heißt nicht Zarski.«
    Sie schaute starr vor sich hin.
    »Vielleicht solltet ihr Zarskis euch mal überlegen, dass ihr als Allererste benachrichtigt würdet, wenn eurer Mutter wirklich was passiert wäre«, sagte Lydia. »Ganz bestimmt wüsstet ihr dann längst Bescheid. Außerdem, Anna und ich haben seit dem Nikolaustag auch keine Post mehr bekommen. Machen wir deshalb so ein Theater?«
    Sie sagte nicht, dass sie in den Nächten oft stundenlang wach lag und dass ihr dann schreckliche Bilder durch den Kopf jagten, Bilder vom Alleinsein und vom Tod der Eltern. Doch dann merkte sie, dass Ruth sie ängstlich anschaute, und wiederholte: »Ganz bestimmt hätten wir längst Bescheid bekommen.« Niemand fiel auf, dass sie »wir« gesagt hatte. »Die Betty, die solche Geschichten verbreitet, die knöpf ich mir morgen mal vor.«
    »Brauchst du nicht, Lydia. Das mache ich selbst. Heute noch.«
    Ruth ging hinaus.
    Irmgard löste das Band von den Briefen und las einen nach dem anderen. Auch die anderen Mädchen holten ihre Briefe und Fotos hervor.
    Irmgard suchte das postkartengroße Bild heraus, auf dem ihr Bruder Albert in seiner schwarzen HJ-Uniform zu sehen war. Sie schaute es lange an. Dann lächelte sie und gab es Anna. »Das schenke ich dir«, sagte sie. »Ich glaube, er hat inzwischen Haare auf der Brust.«
    »Dann solltest du mir das Foto geben.« Gerda streckte die Hand aus. »Anna

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