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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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will bestimmt keinen Gorilla.«
    Niemandem in der Stube war zum Lachen zumute.
    Sie baten Anna, eine Geschichte vorzulesen. Das hatte sie schon öfter getan. Doch an diesem Abend traf Anna keine gute Wahl. Sie las das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern, das einsam im Schnee saß und ein Streichholz nach dem anderen anzündete, damit sich wenigstens ein bisschen Wärme und Licht verbreitete.
    Am Neujahrstag versuchten die deutschen Truppen am Oberrhein noch einmal einen Vorstoß nach Westen. Doch bald stockte der Angriff. Die schlechten Nachrichten häuften sich. Belgien musste ganz aufgegeben werden, die russischen Armeen überschritten in Schlesien die Reichsgrenze, Ostpreußen wurde eingeschlossen, die Ardennenoffensive und die Offensive aus der Pfalz scheiterten.
    Am zweiten Sonntag im Januar vermisste Anna ihren neuen Taschenkalender. Hatte sie ihn im Speisesaal auf die Fensterbank gelegt und dort vergessen? Es ging schon auf zehn Uhr zu. Das Licht in der Stube war längst gelöscht worden. Sie zog ihren Trainingsanzug über den Schlafanzug, schlich durch den dunklen Flur und tastete sich die Treppe hinunter. Die Zahl der Stufen war ihr längst vertraut. Vor Dr. Scholtens Zimmer blieb sie stehen. Die Melodie eines schwermütigen Liedes drang durch die Tür. Anna erkannte die Stimme von Schwester Nora. Aber da war nichts mehr zu spüren von Zarah Leanders hoffnungsvollem Lied Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn und auch nichts mehr von Nur nicht aus Liebe weinen. Ja, selbst die Zuversicht von Da haben die Dornen Rosen getragen war ganz und gar verklungen. Sie sang: Oh Straßburg, oh Straßburg, du wunderschöne Stadt, darinnen liegt begraben so mannicher Soldat.
    Wie unter einem geheimen Zwang öffnete Anna die Tür. Im Schein einiger Kerzen erkannte sie Schwester Nora, Frau Krase, Dr. Scholten und Frau Brüggen.
    Anna erschrak. Wie konnte sie es wagen, das Zimmer zu dieser späten Stunde zu betreten, ohne gerufen worden zu sein, ohne anzuklopfen. Verwirrt stand sie da und traute sich nicht, um Entschuldigung zu bitten und einfach wieder hinauszugehen. Frau Brüggen flüsterte ihr zu: »Schließ die Tür und setz dich.« Sie legte den Finger auf die Lippen. Da kein Stuhl mehr frei war, kauerte sich Anna auf den Boden.
    Schwester Nora sang Lied um Lied, aber nicht eines war dabei, das das noch junge Jahr fröhlich begrüßt hätte. Die anderen hörten wie versunken zu. Auch Anna hatte bald die merkwürdige Situation vergessen. Schließlich, die Kerzen waren heruntergebrannt, verklang das letzte Lied: Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an … Niemand rührte sich. Erst als eine der Kerzen erlosch, stand Dr. Scholten auf und schaltete das elektrische Licht an.
    »Nora, Nora«, seufzte er, »was machst du nur mit uns.«
    Anna fürchtete, er würde sie tadeln oder zumindest fragen, warum sie einfach in das Zimmer gekommen war. Aber nichts geschah. Frau Brüggen gab ihr schließlich einen Wink. Anna stand auf, ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. In dieser Nacht suchte sie nicht mehr nach ihrem Kalender.
    In der Stube schliefen anscheinend alle. Es war kalt. Sie schlüpfte in ihr Bett. Am nächsten Morgen dachte sie zuerst, sie hätte das alles geträumt. Aber dann fiel ihr der Kalender ein. Sie rannte noch vor dem Frühstück hinunter. Er lag auf der Fensterbank. Sie kritzelte mit winzig kleinen Buchstaben die Zeile Ich fürchte, der Krieg geht verloren hinein.
    Vieles, was sie vorher ganz anders gesehen hatte, nahm nun eine neue Bedeutung für sie an. Sie erkannte hinter den Durchhalteparolen und den stets sich wiederholenden Siegesmeldungen den verzweifelten Versuch, die wirkliche Lage zu verschleiern. Noch vor wenigen Wochen hatte sie es für Altmännergeschwätz gehalten, als sie in einer Bäckerei im Dorf zufällig ein paar Sätze aus einem Gespräch aufgeschnappt hatte. Ein graubärtiger Mann hatte eindringlich auf einen anderen eingeredet und gesagt: »Österreich muss los vom Altreich. Wir wollen wieder selbstständig werden.«
    Im Quellenhof hatte sich eine merkwürdige Lähmung breitgemacht. Der Unterricht war für die Schülerinnen langweiliger denn je. Die Nachmittagsstunden schleppten sich dahin. Eine dumpfe Müdigkeit lag über dem Haus.
    Allein Heidrun Czech bemühte sich immer wieder, die düstere Stimmung der Mädchen aufzuhellen. Eines Tages setzte sie für die jüngeren Schülerinnen am Nachmittag eine Übung an. Auch die Klasse von Ruth musste

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