So weit die Wolken ziehen
unterstützt.
»Ich sende ihn ab«, entschloss sich Dr. Scholten. »Dr. Meyer wird mich wohl kaum anschwärzen.«
Er warf den Bittbrief in den Briefkasten an der Poststelle.
»Komm gut an«, sagte er ziemlich laut.
Eine Frau ging gerade vorbei. Sie rief ihm zu: »Hätten S’ gleich in den Müll werfen sollen. Hätten S’ Porto gespart.«
Notorische Schwarzseherin, dachte Dr. Scholten und musste über sich selbst lachen, weil er Aumanns Redeweise übernommen hatte.
Er hatte das Dorf schon fast verlassen, da kam Bartel ihm entgegen, der als Führer des Volkssturms Wert darauf legte, mit Herr Feldwebel angeredet zu werden.
»Morgen früh, Herr Professer. Um acht Uhr trifft sich unser Trupp vor dem Roten Hirschen.«
»Und wer soll die Schülerinnen unterrichten?«
»Soll ich das auch noch organisieren?«, fragte Bartel. »Mir reicht’s schon mit der Heimatverteidigung. Übrigens, eine Schaufel brauchen wir diesmal nicht. Eine Schießübung ist befohlen. Können S’ überhaupt mit dem Karabiner umgehen?«
»Jawoll, Herr Feldwebel«, antwortete Dr. Scholten und schlug die Hacken zusammen.
»Na ja«, sagte Bartel, »das klappt ja schon ganz gut. Aber es wird sich bald herausstellen, dass Sie ein blindes Huhn sind, Herr Professer, wenn scharf geschossen wird.«
Dr. Scholten informierte den Direktor, damit seine Vertretung geregelt werden konnte. Zu seinem Erstaunen nahm Aumann die Nachricht gelassen hin und antwortete: »Was sein muss, muss sein.«
Dr. Scholten erzählte auch Schwester Nora, dass er bald zu den Scharfschützen gehören würde.
»Das meinst du doch nicht ernst, Otto?«, fragte sie.
»Ich werde dem Bartel zeigen, dass ich ein gutes Auge habe und die Zwölf auf der Zielscheibe treffen kann.«
»Mit Verlaub, Otto, ich glaube, du spinnst.«
»Hör mal, Nora. Weißt du nicht mehr, dass ich vor dem Krieg beim Preisschießen auf den Vogel gleich mit dem ersten Schuss den Kopf des Tierchens weggeputzt habe? Die Bruderschaft St. Sebastian war überrascht und hat mir sogar die Ehrenmitgliedschaft angetragen. Der Bartel wird den Mund nicht zukriegen, wenn meine fünf Patronen alle ins Schwarze treffen.«
»Otto, du spinnst«, wiederholte die Schwester. »Du solltest die Folgen bedenken, wenn du dich als Meisterschütze ausweist. Wo wird der Bartel einen solchen Mann wohl einsetzen, wenn die Russen kommen?«
»Na ja, bestimmt nicht beim Nachschub in der Etappe.«
»Genau. Du wirst ganz vorn im Dreck liegen mit deinem Karabiner. Und vorn fliegt viel Eisen in der Luft herum.«
»Aber …«
»Nichts aber, Otto. Ich an deiner Stelle würde meinen Ruf als blindes Huhn verteidigen und meilenweit neben die Scheibe zielen.«
Dr. Scholten schaute die Schwester nachdenklich an.
Am nächsten Morgen zog der Trupp, der Deutschland retten sollte, im Marschtritt zum Schießplatz.
»Es geht auf fünfzig Meter. Liegend freihändig. Jeder bekommt fünf scharfe Patronen«, sagte der Feldwebel und wies seinen Unteroffizier an, die Munition auszuteilen. »Es geht dem Alphabet nach.«
Dr. Scholten war als Vorletzter an der Reihe.
»Reine Verschwendung bei Ihnen, Herr Professer. Sehen S’ das runde Ding dahinten mit dem schwarzen Fleck in der Mitte, das ist die Zielscheibe. Und über Kimme und Korn müssen S’ anvisieren.« Er deutete mit seinem Zeigefinger auf die genannten Teile des Karabiners. »Und dann, wenn Sie’s haben, da unten an dem Hahn abziehen.«
»Zu Befehl, Herr Feldwebel.«
Na warte, dem werde ich’s zeigen, dachte Dr. Scholten und vergaß alle guten Ratschläge der Schwester. Er legte an, zog den Kolben fest an die Schulter, zielte kurz und drückte ab.
Der Mann im Unterstand am Ziel signalisierte: Zwölf! Es war an diesem Tag der erste Treffer ins Schwarze.
Bartel war einen Augenblick lang stumm. Dann sagte er verbissen: »Weiter, Herr Professer, nächster Schuss.«
Dr. Scholten traf die Scheibe viermal nicht.
Bartel grinste breit. »Blindes Huhn findet auch mal ein goldenes Korn.«
»Jawoll, Herr Feldwebel.«
»Bringen S’ das nächste Mal wieder eine Schaufel mit, Herr Professer.«
»Gern, Bartel.«
»Wie heißt das?«
»Jawoll, Herr Feldwebel.«
Am Abend sagte Dr. Scholten fröhlich zu Schwester Nora: »Befehl ausgeführt, Frau Feldwebel. Ich war der beste und der schlechteste Schütze zugleich. Die einzige Zwölf und vier Nieten. Zur aktiven Heimatverteidigung kaum geeignet.«
Sie sah ihn mit finsterem Blick an. »Lass mich in Ruhe. Mir ist nicht nach Späßen
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