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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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bei euch noch nicht herumgesprochen?« Der Bürgermeister trat an eine vergilbte Europakarte, die an der Wand hing. Überall in Russland bis zum Kaukasus hin steckten noch kleine Nadeln mit farbigen Glasköpfchen. Sie waren 1941 fast täglich ein Stückchen weiter nach Osten umgesteckt worden, je nachdem, wie weit die Deutsche Wehrmacht vorgedrungen war. Aber das war lange her. Im letzten Jahr gab es nur noch eine Richtung an der Ostfront: Rückzug nach Westen. Der Bürgermeister hatte es aufgegeben, die Nadeln jeden Morgen neu zu stecken. Nun aber legte er seinen ausgestreckten Finger nicht auf Russland, sondern auf eine Stelle westlich des Rheins.
    »Die Ardennenoffensive«, sagte er. »Unsere Infanterie und starke Panzerverbände haben die Amerikaner vor sich hergetrieben.« Er legte seine Handfläche auf Frankreichs Westen. »Das ist die Wende. Jetzt zeigen wir denen mal, was eine Harke ist.«
    »Ich muss schnell zurück in den Quellenhof«, sagte Lydia. »Das sollen alle hören.«
    Der Bürgermeister nahm die Likörflasche in die Hand und sagte übermütig: »Da, Mädchen, nimm das kostbare Zeug mit. Aber Vorsicht: zerbrechlich! Die Flasche ist noch halb voll. Eure Lehrpersonen brauchen auch nicht leben wie die Klosterbrüder. Sie sollen auf unsere Soldaten trinken. Diesen Tag, den 16. Dezember 1944, wird man später in den Geschichtsbüchern finden. Wie heißt es doch: Metz ist groß, Paris ist größer. Und die Säcke mit den ungarischen Tretern lasse ich morgen zu euch raufbringen.«
    Ob es die Wirkung des Alkohols war oder das fast vergessene Wort »Siegesnachricht«, so schnell hatte Lydia noch nie den Weg vom Dorf hinauf zum Quellenhof geschafft. Außer Atem rannte sie ins Haus. Doch auch dort wussten es schon alle: Die Ardennenoffensive ist die Wende. Jetzt geht es wieder aufwärts.
    Lydia teilte Heidrun Czech mit, dass die Weihnachtsgeschenke am Freitag heraufgebracht würden. In all der freudigen Erregung vergaß Lydia den flüssigen Gruß des Bürgermeisters für die Lehrerinnen und Lehrer. Erst am Abend, als sie ihren Einkaufsbeutel auspackte, fand sie die Flasche. Sie zeigte sie allen in der Stube und prahlte damit, dass sie auch davon kosten durfte.
    »Und, hat’s dir gemundet?«, äffte ihre Schwester Frau Zitzelshauser nach.
    Lydia verdrehte ihre Augen und schwärmte: »Wie Nektar und Ambrosia, die Speise der Götter.«
    »Lass uns auch mal probieren, Lydia. Für jede ein winziges Schlückchen. Keine Lehrperson weiß, wie viel in der Flasche war«, sagte Irmgard. »Niemandem wird etwas auffallen.«
    Als auch Anna dafür war, willigte Lydia ein. »Aber zuerst bin ich selbst an der Reihe. Ich muss prüfen, ob sie mir wirklich den Marillenlikör mitgegeben haben und nicht irgendeinen Fusel.«
    Ganz so klein wie angekündigt wurde der Schluck dann doch nicht. Die Flasche wurde weitergereicht, und als alle die scharfe Süße des Likörs probiert hatten, war die Flasche schon fast leer.
    Nachdenklich schaute Lydia die Flasche an. »Das Kollegium ist groß«, sagte sie. »Wird das noch für alle reichen?«
    »Kaum«, antwortete Anna. »Ich bin dafür, wir trinken auch noch den Rest.«
    »Und ich bin die Dumme, wenn das herauskommt«, sagte Lydia.
    Doch die Mädchen in der Stube zerstreuten ihre Bedenken. »Sie wissen doch gar nicht … Wer soll ihnen auf die Nase binden, dass sie dir die Flasche mitgegeben haben … Die würden nie darauf kommen, dass ein deutsches Mädchen Alkohol trinkt … Keine von uns wird etwas verraten. Schließlich hängen alle mit drin.«
    Lydia nickte. Sie ließ die Flasche kreisen, und als sie ein weiteres Mal die Runde gemacht hatte, war nur noch ein Fingerbreit drin. In diesem Augenblick kam Ruth in die Stube. Sie nahm die Likörflasche in die Hand und schnüffelte daran. »Hmm. Riecht richtig gut.«
    Die Mädchen wussten nicht, was sie machen sollten. Schließlich sagte Anna zu Ruth: »Bist du noch meine Freundin?«
    »Warum fragst du mich?«
    »Antworte erst auf meine Frage.«
    »Klar bin ich deine Freundin.«
    »Freunde darf man nicht verpetzen. Eigentlich war dieser Marillenlikör für die Lehrerinnen und die Lehrer bestimmt. Aber wir haben ihn …«
    ». . . ausgesoffen«, ergänzte Ruth.
    »Nicht ganz, wie du siehst. Wir haben ein kleines bisschen für dich dringelassen«, sagte Lydia. »Willst du?«
    »Ich?«, fragte Ruth.
    Lydia schaute theatralisch in die Runde. »Siehst du außer dir sonst noch jemanden, der eigentlich nicht in unsere Stube gehört?«
    Ruth hielt

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