So weit die Wolken ziehen
worden. Nur Kerzen hatte Dr. Scholten nicht aufstecken können, weil es weder im Dorf noch in der Stadt welche zu kaufen gab. Er hatte sich jedoch vom Kloster zwei dicke Kerzen erbeten und sie angezündet. Ein Beistelltischchen war mit einem weißen Laken abgedeckt. Die Mädchen vermuteten, dass dort Geschenke lagen. Ihre Augen hatten sich bald an das dämmrige Licht gewöhnt.
Zuerst wurden Weihnachtslieder gesungen. Schließlich hob Schwester Nora vorsichtig das Laken von dem Tischchen und stellte die Kerzen dicht daneben. Jetzt sahen es alle: In einem ärmlichen Stall hockte Maria an der Krippe, Josef hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt und ein Hirte und seine Frau trugen einen Korb mit Geschenken für das Kind, das in der Krippe lag. Die Gesichter der Krippenfiguren und sogar die Hände waren aus dem gelblichen Wachs wunderbar fein geformt. Schwester Nora hatte keine kostbaren Stoffreste gefunden und schließlich mit ein paar Lumpen zufrieden sein müssen. »Maria und Josef besaßen damals bestimmt auch keine Kleider aus Samt und Seide«, hatte Dr. Scholten gesagt.
Während alle die Krippe anschauten, las Dr. Scholten aus einer Taschenbibel leise die Weihnachtsgeschichte vor.
Anna hatte auf Wunsch von Schwester Nora aufgeschrieben, wie bei ihnen zu Hause der Heilige Abend gefeiert worden war. Aber als sie zu der Stelle kam »Wir warteten auf dem Flur vor der Wohnzimmertür. Meine Mutter hat eine sehr schöne Altstimme. Sie hat das Lied gesungen: Maria durch ein’ Dornwald ging …«, da schluckte Anna und konnte nicht weiterlesen. Plötzlich sang Schwester Nora die erste Strophe des Liedes und der volle Klang ihres tiefen Alts erfüllte das Zimmer: »Als das Kindlein durch den Wald getragen, da haben die Dornen Rosen getragen. Jesus und Maria.«
Anna liefen die Tränen übers Gesicht. Lydia nahm ihr das Blatt aus der Hand und las weiter: »Dann schellte im Wohnzimmer das Glöckchen und wir durften den Raum betreten. Unser Baum reichte vom Fußboden bis zur Decke und war über und über mit Glaskugeln geschmückt. Viele Bienenwachskerzen brannten und verbreiteten einen wunderbaren Duft.«
Lydia las leise, aber mit klarer Stimme. Als sie fertig war, blieb es lange still in Dr. Scholtens Zimmer.
Schließlich sagte Anna: »Das kommt nie wieder. Das Haus abgebrannt, die Gewächshäuser unserer Gärtnerei zerstört, die Tulpenzwiebeln unter den Trümmern verschüttet, mein Onkel gefallen. Nie wird es wieder so sein wie damals.«
Zur Christmette schlichen sie diesmal nicht über das Dach. Die Gruppe ging durch den Haupteingang des Quellenhofs.
Weder Direktor Aumann noch Frau Lötsche sprachen diese Verletzung der Vorschriften in der Konferenz an.
Nach den Weihnachtstagen rief Frau Lötsche ihren Siegfried, den Vertreter der Reichsfilmkammer, in der Stadt an. »Lieber Siegfried, hier stinkt’s mal wieder. Niedergedrückte Stimmung nach Weihnachten. Sozusagen ein Weihnachtskater. Was können wir tun?«
»Kein Problem«, erwiderte Siegfried. »Ich kann dir sogar etwas für den Silvesterabend anbieten. Der Film heißt Die Feuerzangenbowle. Heinz Rühmann übertrifft sich selbst. Eine bessere Besetzung für die Schülerrolle kann ich mir nicht vorstellen. Und auch Paul Henckels als Physiklehrer ist eine Klasse für sich.«
»Am letzten Abend des Jahres mit den Schülerinnen ins Dorf? Ich weiß nicht, ob das Zustimmung findet.«
»Wir können mit dem Film ja schon am Spätnachmittag anfangen. Dann könnten wir beide den Abend und den Jahreswechsel gemeinsam feiern. Was hältst du davon, Karin?«
»Gut«, stimmte Frau Lötsche zu. »Wenn ich es recht bedenke, brauche ich selbst auch dringend eine Aufmunterung.«
»Abgemacht. Und buche von Silvester auf Neujahr das Doppelzimmer im Roten Hirschen.«
»Mit Vergnügen«, sagte Frau Lötsche. Als sie wieder in ihrem Zimmer war, betrachtete sie sich im Spiegel und strich mit dem Finger über die ersten Fältchen an ihren Augen. »Krähenfüßchen«, seufzte sie. »Kaum zu sehen, aber doch schon da.«
Trotzdem, mit ihren glänzenden blonden Haaren, den blitzenden Augen und den nach dem Telefonat geröteten Wangen konnte sie sich durchaus noch sehen lassen.
Am späten Silvesterabend, nach der Filmvorführung, waren die Mädchen in Stube 215 wie aufgedreht. Sie alberten herum, äfften die Stimme des Physiklehrers nach: »Wat is en Dampfmaschin?«, und riefen sich Schüler Pfeiffers Streiche ins Gedächtnis. Sie waren überrascht gewesen, dass die Jungen aus
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