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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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immer noch die Flasche in der Hand. Anna ermutigte sie. »Kannst ruhig den letzten Tropfen trinken. Es ist vielleicht die einzige Gelegenheit für dich. Du wirst sonst nie wissen, wie Marillenlikör schmeckt.«
    »Na gut«, stimmte Ruth zu. Vorsichtig nahm sie einen winzigen Schluck. Dann sagte sie: »Ich hatte keine Ahnung, wie lecker Likör sein kann«, trank den Rest und leckte sich die Lippen.
    »So. Mitgefangen, mitgehangen«, sagte Irmgard zufrieden. »Jetzt wird sich mein Schwesterchen hüten, unser kleines Geheimnis auszuplaudern. Sie war ja selbst mit dabei.«
    »Hätte ich sowieso nicht getan, dumme Gans«, rief Ruth und lief aus der Stube.
    Bis auf Lydia schliefen die Mädchen tief und fest. Lydia jedoch musste mehrmals in der Nacht zum Klo laufen. Ihr war übel. Erst als sie erbrochen hatte, ging es ihr ein wenig besser. »Einmal und nie wieder«, nahm sie sich vor. »Das ist kein Göttertrank, das ist Teufelsgebräu.«
    Am Morgen spielte Heidrun Czech mit der Flötengruppe wie fast jeden Tag im Flur eine Weckmelodie. Dann ging sie in Stube 215 und rief laut: »Aufstehen, ihr Schlafmützen.« Sie hatte die Tür schon halb wieder geschlossen, da drehte sie sich noch einmal um. »Hier stinkt es ja wie im Ziegenstall.«
    Sie riss das Fenster auf. Kalte Luft wehte herein.
    Der Protest der Mädchen fiel dünn aus.
    »Heide weiß wohl nicht, wie Ziegen riechen«, sagte Irmgard.
    »Aber du, du weißt es, wie?«, spottete Gerda.
    »Weiß ich auch!«
    »Irmgard weiß wie immer alles.« Gerda lachte, sprang aus dem Bett und schloss das Fenster.
    Irmgard verschwieg, dass ihre Familie, bis ihr Vater zu den Soldaten musste, zwei Ziegen im Stall hinter dem Haus gehalten hatte.

Fünfter Teil
    Am Heiligen Abend hatte Frau Czech die Beuteschuhe der Größe nach in einer langen Reihe an der Wand des Speisesaals aufstellen lassen. Sie waren mit schwarzem Verdunkelungspapier abgedeckt. Nicht berühren stand auf mehreren kleinen Pappschildchen. Auf den Tischen brannten nur wenige Kerzen.
    Das Abendessen unterschied sich kaum von dem an anderen Tagen.
    »Alles wird knapp«, klagte Frau Zitzelshauser. »Ich weiß nicht mehr, wie ich die vielen Mäuler stopfen soll. In diesem Alter haben die Mädchen ständig Hunger. Eigentlich müssten sie …« Aber dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung und schluckte die Frage hinunter, ob es gemundet hätte.
    Da stand Anna auf und sagte: »Frau Zitzelshauser, es hat uns gut geschmeckt und wir danken Ihnen für Ihre Mühe.«
    Ein paar Sekunden lang blieb es still, dann begann Lydia, Beifall zu klatschen, und schließlich fielen alle ein. Frau Zitzelshauser bedeckte ihre Augen mit der Schürze und ging in die Küche zurück.
    Nachdem die Lieder vom Tannenbaum und von der Zeit, die wieder einmal angekommen war, verklungen waren, fragte Heidrun Czech: »Gibt es jemanden unter euch, der Schuhgröße 42 oder mehr hat?«
    Niemand meldete sich. »41?« Drei Mädchen standen auf.
    »Diese Damen, die offenbar auf großem Fuß leben, dürfen das Geheimnis eurer Geschenke enthüllen. Rollt das Papier zusammen.«
    Ein Raunen ging durch den Saal. Schuhe! Viele, viele neue Lederschuhe!
    »Die Schuhe mit den größten Nummern stehen links. Auch die mit Schuhgröße 40 können ein Paar anprobieren und mit zum Tisch nehmen.«
    Schließlich waren fast alle Schuhe verteilt.
    »Gibt es jemanden, der noch kleinere Füße hat?«
    Ruth meldete sich. »Ich glaube, ich habe Schuhgröße 30.«
    »Du darfst dir jetzt ein Paar aussuchen.«
    Alle waren zu groß. Schließlich stand Ruth ratlos und traurig vor dem Rest.
    Anna ging zu ihr und sagte: »Ruth, nimm die kleinsten.«
    »Die sind auch noch zu groß.«
    »Meine Mutter hat für uns früher immer Schuhe gekauft, die ein bisschen zu groß waren. Ihr wachst schnell hinein, hat sie gesagt. Wir mussten dann in die Spitzen so viel Zeitungspapier pressen, bis die Schuhe passten. Das geht ganz gut. Versuch es auch. Wenn deine Füße gewachsen sind, dann puhlst du etwas von dem Papier heraus. Unsere Füße werden ja auch größer und Schuhe sind schnell zu klein und drücken. Du hast dann gut lachen, weil deine Schuhe viel länger passen.«
    »Stimmt das?«, fragte Ruth.
    Mehrere Mädchen antworteten im Chor: »Das stimmt.«
    Ruth war halbwegs zufrieden.
    Zwölf Mädchen hatten sich in Dr. Scholtens Zimmer eingefunden. Weil auch die Schwester und einige Lehrerinnen gekommen waren, wurde es eng. Ein kleiner Tannenbaum war mit Strohsternen und Lametta geschmückt

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