So weit die Wolken ziehen
Mädchen nie spüren lassen.
Dr. Scholten hatte die Schülerinnen in Gruppen aufgeteilt, die von den Lehrerinnen angeführt werden sollten. Frau Lötsche hatte Heidrun Czechs Rolle übernommen. Sie ließ die Schülerinnen antreten und kommandierte: »Ohne Tritt marsch.«
Der Abschied vom Quellenhof fiel den meisten Mädchen schwer. Maria Quell war für viele Monate ein sicherer Ort gewesen und für viele zur zweiten Heimat geworden.
Frau Lötsche bemerkte die Wehmut der Mädchen und stimmte das Lied an:
»Wann wir schreiten Seit’ an Seit’
und die alten Lieder singen,
und die Wälder widerklingen,
fühlen wir, es muss gelingen:
Mit uns zieht die neue Zeit,
mit uns zieht die neue Zeit.«
Sie gerieten nicht außer Atem, weil es keine einzige Steigung bis ins Dorf hinab gab, die ihnen die Luft hätte nehmen können. Ein Lied nach dem anderen wurde gesungen, bis sie die ersten Häuser erreichten. Der Anblick der Flüchtlinge, die müde vorbeizogen, ließ sie verstummen. Die Ochsenkarren bestimmten das Tempo. Das Überholen war gefährlich, denn Militärfahrzeuge fuhren auf der linken Fahrspur.
Ohne zu zögern, schoben sie alles in den Straßengraben, was sich ihnen in den Weg stellte.
Wie Dr. Scholten befürchtet hatte, war weit und breit kein Bus zu sehen. Sie mussten weiter. Als erste Übernachtung war die Stadt im Rückführungsplan angegeben. Noch etwa zwanzig Kilometer Fußmarsch lagen vor ihnen. Der Rucksack auf dem Rücken, die Schultasche in der Hand, allmählich wurde der Gang der Mädchen schleppender.
Irmgard sagte: »Ich kann nicht mehr. Ich gehe keinen Schritt weiter.«
»Bist du verrückt?«, rief Lydia. »Keine von uns bleibt zurück. Reiß dich zusammen. Gib, ich trage deine Tasche.« Sie nahm die Tasche und sagte: »Mensch, Irmgard, was hast du denn alles eingepackt? Die ist ja schwer wie Blei.«
»Gib sie mir zurück, wenn du mir nicht helfen willst. Ich habe meine Lieblingsbücher drin. Nur sieben. Die lasse ich nicht zurück.«
»Du hast sie wirklich nicht mehr alle beisammen, Irmgard. Bücher! Wirf sie weg. In Oberhausen kannst du dir neue kaufen.«
Empört riss Irmgard Lydia die Tasche aus der Hand, aber nach wenigen hundert Metern legte sie Gullivers Reisen behutsam an den Straßenrand und bald folgten Tom Sawyer und Huckleberry Finn und noch andere. Endlich nahm sie auch das Insel-Bändchen mit Rilkes Kornett heraus. Sie weinte und warf es auf die Straße. Gleichgültig ließ sie sich die Tasche von Lydia wieder abnehmen. Anna stützte sie und sagte: »Irmgard, du darfst nicht schlappmachen. Du musst deine kleine Schwester, du musst Ruth heil nach Hause bringen. Was willst du sonst deiner Mutter sagen?«
Erschöpft erreichten sie die Stadt. Dr. Scholten fragte nach den Bussen, bekam aber nur ein höhnisches Lachen zu hören.
»Busse?«, sagte ein hagerer Mann. »Busse hier in der Stadt? Sie können froh sein, wenn Ihre Mädchen irgendwo in einer Schule oder einem Gasthaus für den Rest der Nacht unterschlüpfen können. Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Aber alle zusammen in einem Haus, das wird nichts. Das sind ja mehr als hundert. Alles ist hier schon gestopft voll. Kleine Gruppen, ja, das vielleicht wohl. Aber selbst dazu brauchen Sie Ellenbogen und Glück.«
Der Zug hielt auf einem Platz mitten in der Stadt. Die Mädchen waren länger als fünf Stunden unterwegs gewesen. Bald setzten sich die ersten in den zertretenen Schnee.
Dr. Scholten rief die Lehrerinnen zusammen. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen uns trennen. Versuchen Sie, mit Ihrer Gruppe irgendwo in der Stadt ein trockenes Plätzchen zu erwischen. Sie brauchen Glück und Ellenbogen, hat ein Mann zu mir gesagt. Das Glück kann niemand zwingen. Aber die Ellenbogen, die sollten Sie einsetzen. Morgen um sieben Uhr finden Sie sich bitte wieder mit Ihren Mädchen hier auf dem Platz ein.«
»Wie soll das nur weitergehen?«, fragte Frau Krase.
»Wer soll das wissen? Also bitte, ziehen Sie los.«
Er selbst ging mit Anna, Irmgard, Lydia und den anderen Mädchen der Klasse auf ein Gasthaus zu, das in einer Seitengasse lag. Auf dem goldfarbenen Wirtshausschild stand der Name Zu den drei Erzengeln. Schon an der Tür verwehrte ihm eine Bedienstete den Zutritt. Also Ellenbogen, schoss es Dr. Scholten durch den Kopf und er schob sie zur Seite. Tatsächlich, in der Gaststube war nicht nur jeder Stuhl besetzt, Deutsche, Ungarn, alte Männer, Frauen und Kinder, verwundete Soldaten, ein buntes Völkergemisch
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