So weit die Wolken ziehen
Scholten ging den Plattenweg entlang, nestelte sich das Abzeichen von der Jacke und warf es auf den Mist. Der Pater wartete an der Tür.
»Meine Schuhe sind schmutzig«, sagte Dr. Scholten. »Ich nehme den Weg um das Kloster herum zum Quellenhof.«
»Ach, fast hätte ich es vergessen, Dr. Scholten. Ich habe noch ein Abschiedsgeschenk für Sie und Ihre Schülerinnen.« Er zog einen Umschlag aus seiner Kutte. »Bitte erst öffnen, wenn Sie die Donau erreicht haben.«
»Also dann«, sagte Dr. Scholten. Die Männer standen sich schweigend gegenüber.
»Mit Gottes Segen«, sagte Pater Martin schließlich, drehte sich um und warf die Tür hart ins Schloss.
Ich habe Pater Martin noch so vieles sagen wollen, aber unsere Sprache stößt immer wieder an Grenzen, dachte Dr. Scholten. Er kehrte nicht gleich zum Quellenhof zurück, sondern ging noch einmal den Weg hinauf bis zu der Bank am Waldrand, auf der er oft gerastet hatte. Von dort aus hatte man einen Blick über das ganze Tal. Er setzte sich. Dünne Nebelbänke verhüllten das Dorf. In der Ferne blitzte immer wieder Mündungsfeuer auf. Nach einer Weile spürte er, wie die Kälte von den Füßen her immer höher zog.
Als er gegen Mitternacht durch die Halle im Quellenhof ging, kam ihm der Direktor entgegen. »Ja, zum Kuckuck! Wo stecken Sie denn? Ich warte schon seit Stunden auf Sie.« Er schwenkte einen Zettel vor sich her. »Gegen neun kam ein Anruf. Das Losungswort soll uns in Kürze schriftlich mitgeteilt werden. Waldameise, verstehen Sie, Waldameise! Sie können vielleicht schon morgen früh losmarschieren.«
»Morgen, ja, Herr Direktor. Waldameise hin oder her, morgen geht es auf jeden Fall los, ob mit oder ohne schriftlichen Befehl. Aber bestimmt nicht bei Tageslicht. Ich werde die Mädchen nicht der Gefahr durch Tiefflieger aussetzen.«
Herr Aumann schüttelte den Kopf über so viel Eigensinn. Na ja, dachte er, ab sofort trägt Dr. Scholten ja die Verantwortung.
Am Karsamstag warteten die Mädchen schon nach dem Mittagessen auf das Signal zum Aufbruch. Die Rucksäcke waren gepackt und die Koffer standen aufgereiht in der Halle. Dr. Scholten bestand darauf, dass der Beginn der Dämmerung abgewartet werden müsse. Wie recht er damit hatte, zeigte sich am Nachmittag, als zweimal Tiefflieger durch das Tal donnerten und die Abschüsse ihrer Bordkanonen im Quellenhof deutlich zu hören waren. Frau Zitzelshauser hatte noch einmal das Lieblingsgericht der meisten Mädchen auf den Tisch gebracht, Semmelknödel mit Backpflaumen.
Das, was an Vorräten noch übrig geblieben war, füllte sie in dicke Papiertüten und verteilte sie als Reiseverpflegung an die Mädchen: Haferflocken, Graupen, Kräutertee, ein paar Scheiben Brot, etwas Zucker, ein Tütchen mit Salz und für jeden drei Stück Zwieback. Sie schüttelte den Kopf über die bunte Mischung und sagte zu sich: »In der Not frisst der Teufel Fliegen.«
Anna Mohrmann war noch für ein paar Minuten zu Lutka gegangen. Sie beugte sich zu ihr hinunter. Lutka umarmte sie. Es war wieder ein wenig Kraft in ihren Armen. »Komm gut in deine Heimat zurück«, sagte Anna.
Lutkas Körper versteifte sich. »Nein«, sagte sie. »Russischer Bär immer muss fressen. Wird Polen nie mehr frei sein. Bleibe in Ostmark.«
»Aber Polen ist doch dein Heimatland, Lutka.«
»Anna, du nicht weißt, was russische Soldaten machen mit uns. Sind wild. Wollen Frauen. Wollen alles von uns, verstehst du, alles.«
»Sie werden wie die Soldaten überall sein, wie alle Menschen. Manche sind böse, manche sind gut.«
»Weiß besser. Krieg weckt wilde Tiere in Mensch. Deutsche haben weggeschleppt Polenmädchen nach Deutschland. Russen werden uns jagen nach Sibirien. Bleibe hier. Bald ich hab wieder Kraft in Körper. Kann hier arbeiten. Frau Zitzelshauser wird brauchen Lutka.«
»Ich habe dir meine Adresse in Oberhausen aufgeschrieben, Lutka. Hier, auf dem Kärtchen steht sie.«
Lutka nahm den Zettel.
»Du schreiben, Anna?«
»Ganz bestimmt, Lutka. Wir schreiben uns, sobald die Post wieder geht. Kannst ruhig in Polnisch schreiben. Ich werde es schon lesen können.«
»Werd ich dir bestimmt schreiben.« Lutka nickte. »Komm gut heim, Anna.«
Dann war es so weit. Zum Abschied sangen die Mädchen ein Lied als Dankeschön. Frau Zitzelshauser wischte sich mit der Schürze die Tränen aus den Augen, auch wenn die Schülerinnen nicht zu ihren Wunschgästen zählten und ohne ihre Zustimmung in das Hotel eingewiesen worden waren. Sie hatte es die
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