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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Direktor einberufen hatte, als wäre diese Woche eine Woche wie jede andere. Die wichtigste Frage, wann der Aufbruch beginnen sollte, konnte er nicht beantworten. Das Losungswort Waldameise war immer noch nicht ausgegeben worden. Stattdessen ging es darum, die Zeugniszensuren für die Mädchen endgültig festzulegen und in die Listen einzutragen.
    »Zeugnisse in diesen Tagen!«, murrte Frau Wisnarek. »Als ob das noch wichtig wäre.«
    »Es ist wichtig«, sagte der Direktor kühl. »Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle fest gefügten Ordnungen über den Haufen werfen würden? Wie sollen wir von unseren Schülerinnen Disziplin einfordern, wenn wir sie selbst missachten. Ich bitte Sie, konzentriert zu arbeiten. Bis spätestens morgen Nachmittag um sechzehn Uhr sind mir die Zeugnisse zur Unterschrift vorzulegen.«
    »Wenn bis dahin die Abmarschparole nicht gegeben worden ist«, warf Frau Wisnarek ein.
    Der Direktor hörte darüber hinweg. »Als Ausgabedatum wird Mittwoch, der 28. März 1945, eingetragen. Am 29. teilen wir die Zeugnisse nach der dritten Stunde aus. Der 30. ist der Karfreitag, Feiertag und Ferienbeginn.«
    »Eigentlich hätten die Osterferien ja schon am Samstag anfangen sollen«, sagte Frau Wisnarek.
    »Eigentlich, Frau Kollegin. Aber wir alle können uns leicht ausmalen, was in diesen unruhigen Tagen hier im Haus los wäre, wenn der Unterricht ausfiele. Deshalb habe ich als Ihr Vorgesetzter ja angeordnet, dass zunächst alles so weiterläuft wie bisher. Ich denke, wir sollten jetzt damit beginnen, die Zensuren einzutragen.«
    Jemand klopfte hart an die Tür. Heidrun Czech kam herein. Sie achtete nicht auf Herrn Aumanns unwilliges »Nana!«, sondern sagte: »Die sechs Mädchen aus Stube 218 sind verschwunden. Ihre Klassenkameradinnen von Stube 215 haben gemeldet, dass sie vor etwa zwei Stunden mit Sack und Pack in Richtung Dorf aufgebrochen sind.«
    Herr Aumann wurde zornesrot im Gesicht und die Adern an seinem Hals schwollen an. »Warum ist mir das nicht früher gemeldet worden?«
    »Ich habe es ja selbst erst vor zwei Minuten erfahren, Herr Direktor.«
    »Frau Krase, holen Sie mir sofort die Anna Mohrmann her.«
    Aber Anna wusste auch nicht mehr zu sagen als Heidrun Czech. Sie hätten gar nicht bemerkt, dass die sechs sich wahrscheinlich allein auf den Weg nach Hause gemacht hätten. Aber dann wäre Lydia zufällig in Stube 218 gegangen. Dort habe sie ein großes Durcheinander vorgefunden. Die Spinde waren ausgeräumt und die Rucksäcke verschwunden, die Mädchen weg.
    Anna gab dem Direktor ein aus einem Schreibheft herausgerissenes Blatt, das sie in der Hand hielt. Darauf stand in sauberer Schrift: Wir machen uns auf den Weg nach Hause. Hoffentlich sehen wir uns bald in Oberhausen wieder.
    »Was nun?«, fragte Frau Krase.
    »Wir könnten versuchen, sie einzuholen und zurückzubringen«, sagte Frau Lötsche.
    »Das müssen wir uns wohl aus dem Kopf schlagen.« Dr. Scholten stand auf. »Ich war heute Morgen noch im Dorf und habe mich beim Volkssturm für die Konferenz beurlauben lassen. Auf der Landstraße Richtung Stadt bewegt sich der Flüchtlingstreck, Wagen an Wagen. Die Suche nach den Mädchen wäre vergebens. In dem Chaos könnten wir eher eine Nadel im Heuhaufen finden. Wir können nur hoffen …« Er brach ab.
    »Bevor wir die Konferenz beenden«, sagte der Direktor, »beauftrage ich Sie«, er zeigte auf Dr. Scholten, »dafür zu sorgen, dass die Türen des Hauses von innen verschlossen werden. Teilen Sie jeweils zwei Kolleginnen zur Hausaufsicht ein. Außerdem noch ein Letztes: Das Losungswort ist ja in diesen Tagen zu erwarten. Ich bitte Sie alle, darauf zu achten, dass die Mädchen ihre Koffer mit den Sachen, die sie nicht mitnehmen können, in der Halle abstellen. Ich werde mich darum bemühen, dass sie nachgeschickt werden. Ferner achten Sie bitte darauf, dass die Bettwäsche vor dem Aufbruch abgezogen und zusammengelegt wird. Die Kleiderschränke und Spinde sind ja dann ohnedies leer. Wir werden die Räume besenrein verlassen. Ich glaube, das sind wir unseren Prinzipien und auch der Hauswirtin, die sich so redlich um uns bemüht hat, schuldig.«
    »Aber Herr Direktor«, meldete sich wieder Frau Wisnarek, »wenn der Befehl zum Aufbruch endlich eintrifft, können wir unseren Abmarsch doch nicht mit solchen Kinkerlitzchen hinauszögern.« Sie klopfte mit ihrem Ring auf die Schreibtischplatte.
    »Ich weiß nicht, was Sie mit Kinkerlitzchen andeuten wollen, Frau Wisnarek, aber ganz abgesehen

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