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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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füllte jede freie Stelle. Auf Tischen, Bänken, auf dem Boden hockten sie. Dazwischen Bündel, Koffer, Kisten. Dicke Rauchwolken schwebten um die einzige Lampe, die ein trübes Licht verbreitete. Dr. Scholten schloss die Tür wieder.
    »So sieht es überall in der Stadt aus«, sagte die Bedienstete.
    »Dann eben hier im Flur.«
    »Das geht nicht«, wehrte sie ab. »Die Leute rennen ständig hier durch zu den Klos.«
    Dr. Scholten sah sich um. Im hinteren Teil des Flurs führte eine zweite Tür in die Gaststube. »Sie schließen diese Tür ab und sagen den Leuten, dass sie nur den anderen Ausgang benutzen dürfen.«
    Tatsächlich kam die Frau nach wenigen Minuten mit einem großen Schlüssel zurück und verschloss die Tür.
    Dr. Scholten rief die Mädchen herein.
    »Gott sei Dank«, sagte Anna, »hier ist es warm.«
    Als die Bedienstete die müden, durchgefrorenen Mädchen sah, ging sie in die Küche und kam mit einer großen Kanne heißem Malzkaffee und drei Bechern zurück. Sie hatte sogar ein paar Löffel Zucker in den Kaffee gerührt.
    »Sie sind wahrscheinlich ein Engel«, sagte Lydia.
    Die Bedienstete lachte: »Ich heiße Margaret und meine Mutter sagt, ich wäre keineswegs ein Engel.«
    »Man merkt es erst spät, das mit dem Engel«, murmelte Lydia. Sie war schon halb eingeschlafen.
    Anna wurde schon früh am Morgen vom Treiben im Haus geweckt. Die ersten Flüchtlinge brachen auf. Sie verließen das Gasthaus zwar durch den Hintereingang, aber sie bemühten sich nicht, leise zu sein. Es war noch keine sechs Uhr. Alle Mädchen waren inzwischen wach. Sie reckten sich und versuchten, ihre von dem harten Lager steif gewordenen Glieder beweglicher zu machen. Schließlich waren sie noch die einzigen Gäste. Die Bedienstete war schon wieder auf den Beinen und sagte zu Dr. Scholten: »Wenn Sie wollen, können Sie jetzt in die Gaststube gehen. Ich koche Ihnen noch einen Kaffee.«
    In der Stube stank es nach Tabaksqualm, Schweiß und Knoblauch. Dr. Scholten riss das Fenster auf. Der Lärm der Front drang heller und schärfer herein. »Die Russen sind nicht mehr weit«, sagte er.
    Ein kalter Wind wehte herein. Die Mädchen begannen zu frösteln und baten, das Fenster wieder schließen zu dürfen. Der heiße Kaffee tat ihnen gut. Sie aßen die letzten Brotscheiben. Dr. Scholten fragte die Bedienstete, was er zu zahlen habe.
    »Zahlen?« Die Frau war verwundert. »Sie sind seit Tagen die Ersten, die mich danach fragen. Sagen Sie Vergelt’s Gott und lassen Sie es damit gut sein.«
    »Meine Schwester kennt ein Dankeschönlied«, sagte Lydia.
    »Was für ein Lied?«, fragte Anna unwillig.
    »Das mit dem Silber und Sammetzeug. Sing es.«
    »Na gut. Aber nur die letzte Strophe passt.«
    »Silber und Gold, Kisten voll,
bring ich dann mit mir;
ich bringe Seiden und Sammet-, Sammetzeug,
und alles schenk ich dir.«
    Die Mädchen wiederholten die letzten Zeilen.
    »Na, die Hälfte tut’s auch«, sagte die Bedienstete gerührt.
    Kurz vor sieben sammelten sich die Gruppen auf dem Platz. Auf einmal begannen die Glocken von mehreren Kirchen zu läuten, meist nur ein blechernes Gebimmel, denn die großen Bronzeglocken waren längst beschlagnahmt und zu Kriegsgerät umgeschmolzen worden. Die Sonne ging strahlend am wolkenlosen Himmel auf. Der Wind hatte sich gelegt.
    »Gesegnete Ostern!«, rief Dr. Scholten laut über den Platz. Zu den Lehrerinnen sagte er: »Wie Sie sicher schon bemerkt haben, bewegt sich der Verkehr nur noch in eine Richtung. Ich schlage vor, dass wir uns am Straßenrand aufstellen und versuchen, Lastwagen zum Anhalten zu bewegen. Hoffentlich werden wir mitgenommen.«
    »Dann müssen wir uns ja trennen«, rief Frau Krase.
    »Das wird sich nicht vermeiden lassen, Frau Kollegin. Bitte nehmen Sie Frau Theiß mit. Sie ist noch jung und unerfahren. Frau Theiß wird dankbar sein, wenn sie nicht allein die Verantwortung für eine Gruppe übernehmen muss. Ich rate Ihnen allerdings dringend, gehen Sie auf keinen Fall auf ein Angebot der Ungarn ein, das eine oder andere Kind auf einem Ochsenkarren oder einem Pferdewagen mitzunehmen. Das ist sicher gut gemeint von den Leuten, aber die Gruppen würden dadurch auseinandergerissen. Ich habe Folgendes festgelegt: Wir bewegen uns durch das Höllental über Schwarzau bis zum nächsten gemeinsamen Treffpunkt in Wilhelmsburg. Dort werden wir weitersehen. Prägen Sie jeder einzelnen Schülerin Ihrer Gruppe die Zwischenstationen und den endgültigen Treffpunkt ein. Wir ziehen dann

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