Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
Vom Netzwerk:
passieren würde, wenn irgendjemand davon erfuhr. Wir hätten Joseph auch noch verloren, und Rowan hätte vielleicht ins Gefängnis gemusst. Das konnte ich nicht zulassen.
    Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Rowan hat sie gewaschen und ihr ihren schönsten Strampelanzug angezogen.«
    »Keine Windel. Deshalb hatte sie keine Windel an«, sagte Kincaid leise, als sei ihm plötzlich wieder eingefallen, was ihm die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte. Gabriel nickte.
    »Inzwischen war es ganz dunkel. Ich wickelte sie in ihre Decke und trug sie zu dem alten Viehstall. Ich konnte es nicht riskieren, Rowan mitzunehmen, und außerdem musste sie ja auf Joseph aufpassen.« Nachdem er einmal begonnen hatte, schien Gabriel die gleiche Erleichterung zu empfinden wie seine Frau, als die lange angestauten Worte aus ihm hervorbrachen.
    »Ich hatte in dieser Woche für den alten Mr. Smith gearbeitet. Der Viehstall war schon seit Jahren nicht mehr als Stall benutzt worden, aber Mr. Smith hatte vor, ihn zu verkaufen, und der Mörtel bröckelte an vielen Stellen. Ich war noch nicht ganz fertig mit den Ausbesserungsarbeiten und hatte deswegen
mein Werkzeug dort gelassen. Alles lag griffbereit. Da war diese Futterkrippe, halb versteckt hinter alten Möbeln und einer ausrangierten Melkmaschine – sie war mir aufgefallen, als ich das Gebäude nach Schäden abgesucht hatte. Ich machte … ich habe für Marie getan, was ich konnte …« Er brach ab und schluckte; sein Gesicht war jetzt beinahe so aschfahl wie das seiner Frau. »Und dann habe ich alles dicht gemacht, damit nichts und niemand ihren Frieden stören sollte, und habe alles wieder so hingestellt, wie es vorher gewesen war.
    Am nächsten Tag habe ich mich von Mr. Smith auszahlen lassen. Ich wollte nicht, dass geredet wird, es sollte alles ganz normal aussehen. Dann haben wir den Shroppie verlassen, sind die meiste Zeit im Norden geblieben, wo uns niemand kannte. Aber irgendwie fiel es uns immer schwerer und schwerer, nicht hinzufahren. Vielleicht sollte es einfach so sein, dass wir hier waren, als sie gefunden wurde.«
    »Aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Gemma. »Ihre Tochter, das Mädchen, das Sie Marie nennen … Wer ist sie?«
    »Ich kann Ihnen nicht sagen, wer sie ist«, antwortete Gabriel. Etwas in Kincaids Miene musste ihn bewogen haben, rasch hinzuzufügen: »Das soll nicht heißen, dass ich es Ihnen nicht sagen will . Ich meinte, ich kann es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber ich kann Ihnen sagen, wo sie herkam. Das erste Jahr oder so, da haben wir in ständiger Angst gelebt, weil wir dachten, es könnte jemand unser Baby finden und es irgendwie mit uns in Verbindung bringen. Aber wir konnten das Boot nicht aufgeben – es war alles, was wir hatten -, also schien es uns das Beste, in den großen Städten unterzutauchen. Die Kanäle führen durch die übelsten Viertel, an den alten Lagerhäusern und Slums vorbei, und damals war noch nicht so viel die Rede von ›bevorzugter Lage am Wasser‹.« Es lag ein Anflug von Spott in seiner Stimme.
    »Wir waren in Manchester – ich hatte einen Aushilfsjob in
einer Fabrik gefunden -, aber in den leer stehenden Lagerhäusern in der Nähe von unserem Liegeplatz, da hatten Drogensüchtige Unterschlupf gefunden, Prostituierte, Jugendliche, die von zu Hause weggelaufen waren und ein Dach überm Kopf brauchten. Rowan hat einige von den Frauen näher kennengelernt; sie hat ihnen geholfen, wo es ging. Eines Tages erzählten sie ihr, sie hätten dieses Mädchen tot aufgefunden – eine Überdosis, wie’s schien. Und ihr kleines Töchterchen hatte noch neben der Leiche gekauert.«
    »Das Mädchen war selbst fast noch ein Kind«, warf Rowan ein, und in ihren Augen schien Mitleid auf. »Und die Kleine … es sah aus, als hätte ihre Mutter sich Mühe gegeben, gut für sie zu sorgen, trotz allem. Sie war gut genährt und so sauber, wie man es unter den Umständen erwarten konnte. Aber sie war so verängstigt, das arme kleine Würmchen, und niemand wollte Hilfe holen. Nichts hätte diese Hausbesetzer dazu gebracht, einen Polizisten oder eine Sozialarbeiterin über ihre Schwelle zu lassen, und niemand wollte sie zu sich nehmen. Also haben wir sie genommen.« Rowan sagte es, als wäre es die klarste Sache der Welt, und die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Sie war ungefähr so alt, wie unsere Marie gewesen wäre, und jetzt … Sie ist Marie. Sie erinnert sich an nichts anderes.

Weitere Kostenlose Bücher