So will ich schweigen
Dieses Leben ist alles, was sie kennt. Und wir … Sie ist unsere Tochter, gerade so, als hätte ich sie selbst zur Welt gebracht.«
Alle möglichen Einwände schossen Gemma durch den Kopf. Wäre die Mutter identifiziert worden, dann hätte sich vielleicht auch der Vater gefunden, der das Kind zu sich genommen hätte, oder die Großeltern, alle mit größerem Anrecht als Gabriel und Rowan Wain. Und doch … hätte irgendjemand sie mehr lieben können?
Gemma wurde aus ihrer Grübelei gerissen, als Rowan leise fragte: »Woher haben Sie es gewusst? Das mit Marie?«
»Es waren ihre Augen. Annie Constantine hat in ihren Aufzeichnungen festgehalten, dass Marie braune Augen hatte.«
Rowan seufzte. »Mein Gott. Das hätte ich nie gedacht. Ich wusste gar nicht, dass sie solche Sachen über die Kinder aufgeschrieben hatte.«
Kincaid schob Gemma zur Seite und wandte sich an Gabriel. Seine Stimme war streng. »Hat sie es auch gesehen? Annie Constantine – als Sie ihr an Heiligabend wieder begegneten? Sie hat die Kinder an diesem Tag gesehen, und dann noch einmal, als sie mit Dr. Elsworthy wiederkam. Kam es deswegen zum Streit, weil sie erkannt hatte, dass Marie nicht Ihre Tochter war? Und wenn sie von dem toten Kind im Viehstall erfahren hätte, hätte sie nur noch eins und eins zusammenzählen müssen. Das mussten Sie verhindern, mit allen Mitteln.«
Gabriel löste seine Hand von der seiner Frau und stand auf. Die beiden Männer standen einander in der engen Kabine Auge in Auge gegenüber, und Gemma spürte eine plötzliche Beklemmung, als ob die Luft in dem kleinen Raum knapp würde.
Aber Gabriel Wains Haltung war nicht aggressiv, und als er sprach, lag nur Verzweiflung in seiner Stimme. »Nein. Ich könnte schwören, dass sie es nicht gewusst hat. Und wenn sie gehört hatte, dass die kleine Marie gefunden worden war, hätte sie nie etwas gesagt.« Er legte die Hand auf die Schulter seiner Frau und fuhr fort, jedes Wort ein Appell. »Und selbst wenn, ich hätte ihr niemals etwas zuleide getan.«
Blitzschnell ging Gemma im Kopf die Möglichkeiten durch. Annie hatte vielleicht nicht sofort erkannt, dass das Kind nicht von den Wains war, aber hatte vielleicht am Morgen des zweiten Weihnachtstages, als sie Dr. Elsworthy zu Rowan brachte, irgendetwas eine Erinnerung in ihr ausgelöst? War sie später am selben Tag wiedergekommen, um das Paar zur Rede zu stellen?
Nein. Nicht Rowan. Rowan hätte ihr die Wahrheit gesagt – das war sie Annie Constantine schuldig, und sie war bereit gewesen, alles zu beichten. Aber wenn Annie mit Gabriel allein gesprochen hatte … Wie weit wäre Gabriel Wain gegangen, um seine Familie zu schützen?
Doch sie hatten keine Beweise. Und wenn sie Gabriel jetzt beschuldigten, würde es für diese Familie keine Gnadenfrist geben – auch nicht für Rowan, der nur noch so wenig Zeit blieb.
Gabriel betrachtete Gemma und Kincaid schweigend. Er hatte sich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; jetzt konnte er nur warten. Doch Rowan fragte: »Was werden Sie tun?«, und es schwang Hoffnung in ihrer Stimme – für ihre Kinder, wenn schon nicht für sie selbst.
»Ich …« Gemma zögerte; die Risiken jeder der beiden Alternativen waren ihr quälend bewusst. Aber dann war ihr mit einem Mal vollkommen klar, dass sie diese Familie nicht opfern würde, ohne einen Beweis für Gabriels Schuld zu haben. Und das bedeutete, dass sie herausfinden mussten, wer Annie Constantine ermordet hatte.
Das Feuer war schon fast erloschen, als Juliet in Nantwich ankam und ihren Lieferwagen außerhalb des Rings aus Löschfahrzeugen und einem Gewirr von Schläuchen abstellte. Zwei Feuerwehrleute standen noch vor dem Haus und richteten dicke Wasserstrahlen auf die bereits völlig überfluteten Geschäftsräume von Newcombe & Dutton. Juliet schob sich durch die Menge der Schaulustigen, bis sie ein bekanntes Gesicht entdeckte.
»Chief Inspector! Was ist passiert? Haben Sie … war irgendjemand …?«
»Es war niemand im Gebäude, Mrs. Newcombe«, beeilte sich Babcock, sie zu beruhigen. »Und was passiert ist – nun,
wir haben den Partner Ihres Mannes ungefähr eine Stunde vor Ausbruch des Feuers auf freien Fuß gesetzt. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, da wir noch nicht alle Akten entfernt hatten, aber jemand hat sich mit einem Bolzenschneider Zugang verschafft.« Er begutachtete mit angewiderter Miene den Schaden. »Wir können von Glück sagen, dass nicht der ganze Monk’s Walk in Flammen
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