So will ich schweigen
Boden verwurzelt. Seine Mutter brauchte ihn, das wusste er, aber er brachte es einfach nicht fertig hineinzugehen.
Und dann, ehe er zurückweichen konnte, sprang die Tür von selbst auf. Kit wankte, als der Raum sich vor ihm auftat. Boden und Wände waren gekrümmt wie das Innere einer Schüssel, und ganz unten lag seine Mutter. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, den Kopf auf den Arm gebettet, als ob sie nur ein Nickerchen hielte.
Es ist eine Wiege, dachte er; das Zimmer war ihre Wiege, die sie in den Schlaf geschaukelt hatte. Er würde sie wecken. Sie verließ sich darauf, dass er sie weckte, und er durfte sie nicht im Stich lassen.
Doch als er sich neben sie kniete und das feine blonde Haar zurückstrich, das ihr wie ein Schleier übers Gesicht gefallen war, stellte er fest, dass ihre Haut eisblau war und sich kalt anfühlte. Das Geräusch seines eigenen Schreis hallte in seinem Kopf wider.
Kit riss jäh die Augen auf, strampelte mit den Füßen und schlug mit den Fäusten auf die Bettdecke, als könne er sich so aus den Klauen des Albtraums befreien. Als der kalte Luftzug an sein schweißnasses T-Shirt drang, schüttelte er sich unwillkürlich und wachte vollends auf. Die ersten Sekunden war er durch den Traum noch desorientiert, dann begriff er, dass er nicht in dem Cottage in Grantchester war, wo er aufgewachsen war, aber auch nicht in seinem Zimmer in dem Haus in Notting Hill. Er war in Nantwich bei seinen Großeltern, in Duncans ehemaligem Kinderzimmer.
Mit einem Ruck setzte er sich auf und spähte zu Toby hinüber,
der im anderen Bett noch tief und fest schlief. Gut. Das hieß, dass er nicht laut geschrien hatte. Er mochte gar nicht daran denken, wie peinlich es gewesen wäre, wenn er das ganze Haus zusammengeschrien hätte. Mit dem Zipfel der Bettdecke wischte er sich das immer noch feuchte Gesicht und betrachtete eingehend den Streifen Licht, der durch den Spalt im Vorhang ins Zimmer drang. Es schien Morgen zu sein, aber im Haus rührte sich noch nichts, und auch Tess schlummerte noch am Fuß seines Bettes, zu einem haarigen Ball zusammengerollt. Neben ihr lag ein dunkler, länglicher Gegenstand. Kit kniff die Augen zusammen und schob einen Fuß vorsichtig an das Ding heran, bis er sein Gewicht spürte und seine merkwürdig klumpige Form tasten konnte. Der kurze Moment der Panik verflog, und er kam sich vor wie ein Idiot.
Es war ein Strumpf. Jetzt sah er, dass auch am Fuß von Tobys Bett einer lag. Jemand war ins Zimmer gekommen und hatte sie hingelegt, während sie geschlafen hatten. Es war Weihnachten.
Kit wollte schon nach dem Strumpf greifen, doch seine Hand zitterte. Er legte sich wieder hin und zog die Decke bis unters Kinn. Der Traum war noch zu nahe.
Die Woge von Heimweh, die ihn überkam, war so intensiv, dass er ein Stöhnen unterdrücken musste. Er wollte in London sein, in seinem eigenen Zimmer, seinem eigenen Bett, und die vertrauten Geräusche und Gerüche hören und riechen, die aus der Küche heraufwehten. Sid, ihr schwarzer Kater, würde mit dem Kopf die Tür aufstoßen und mit erhobenem Schwanz durchs Zimmer tapsen, um Kit zu sagen, dass es Zeit war, sich aus den Federn zu rollen. Kit würde nach unten gehen und helfen, das Weihnachtsessen vorzubereiten, und ihre Freunde Wesley und Otto würden vorbeikommen, um Geschenke auszutauschen, während Gemma Klavier spielte …
Sosehr sich Kit auch mühte, sie festzuhalten, irgendwann
war die tröstliche Fantasie verflogen. Er wusste nur zu gut, dass die gewohnte Umgebung den Albtraum nicht verhindert hätte – wie sie ihn auch in den vergangenen Monaten nicht hatte verhindern können. In den Wochen nach dem Tod seiner Mutter hatte er ihn oft heimgesucht, in den unterschiedlichsten Gestalten. Dann war er allmählich verblasst, und Kit hatte schon gehofft, dass er ihn endgültig los wäre, dass er ihn zusammen mit den Bildern, mit den unerträglichen Erinnerungen, in die Mottenkiste werfen könnte.
Doch er war wiedergekommen, zuerst in isolierten Bruchstücken, dann mit immer mehr Einzelheiten und größerer Regelmäßigkeit. Inzwischen schätzte er sich glücklich für jede Nacht ohne Träume, und er fürchtete sich vor dem Einschlafen. Sein Herz begann wieder zu rasen, als die verzerrten Bilder vor seinem inneren Auge vorüberzogen, und die altbekannte würgende Übelkeit schnürte ihm die Kehle zu.
Um sich abzulenken, sah er sich im Zimmer um. Toby hatte sich die Decke übers Gesicht gezogen, nur eine widerspenstige blonde
Weitere Kostenlose Bücher