So will ich schweigen
und er würde sich ins Fäustchen lachen und seinen miesen kleinen Triumph genießen.
Und da schoss ihr plötzlich ein neuer Gedanke durch den Kopf. War er ihr etwa schon einen Schritt voraus? Schmiedete er bereits Pläne und rechnete sich aus, wie er ihr am meisten schaden könnte? Und die Kinder – war es nicht äußerst verdächtig gewesen, wie er sich den ganzen Abend über bei Sam und Lally eingeschmeichelt, wie er sie beschwatzt und mit Komplimenten überhäuft hatte?
Die Kinder. Sie klammerte sich ans Bett, als ob ein Erdbeben das Haus in den Grundfesten erschütterte. Was, wenn er plante, ihr die Kinder wegzunehmen?
Der Weihnachtsmorgen zog kalt und klar herauf, und eine dünne, glitzernde Eisschicht überzog den Schnee vom Vortag wie Zuckerguss. Allein Ronnie Babcock konnte die Schönheit des jungen Tages nicht so recht würdigen; stattdessen erinnerte ihn die weiße Pracht nur daran, dass er seine Sonnenbrille aus der Schublade kramen musste, wenn er nicht permanent mit zusammengekniffenen Augen herumlaufen wollte. Die Zentralheizung hatte sich über Nacht nicht auf wundersame Weise selbst repariert, und nachdem er unter sämtlichen Decken und Federbetten, die er hatte finden können, geschlafen
hatte, war er mit der Unerschrockenheit eines Arktisforschers aus dem Bett gesprungen, hatte gebadet (zum Glück gab es ja noch den Boiler) und sich mit gefährlicher Hast rasiert. Der Lohn für seine Tapferkeit war ein blutender Schnitt am Kinn. Prächtig, wirklich prächtig.
Und das ausgerechnet heute, wo er doch vor seinem Termin mit Dr. Elsworthy im Leighton Hospital noch den Pflichtbesuch bei seiner Großtante Margaret hinter sich bringen musste.
Margaret war die Schwester seiner Großmutter mütterlicherseits und das einzige Mitglied seiner Familie, mit dem er noch Kontakt hielt. Und es gab auch sonst niemanden, der sich um sie kümmerte. Sie hatte keine Kinder, war nie verheiratet gewesen und hatte als berufstätige Frau ihre Unabhängigkeit stets mit Zähnen und Klauen verteidigt. Ihr war es im Gegensatz zu ihrer Schwester und Babcocks Mutter gelungen, sich aus den einfachen Verhältnissen, in die sie hineingeboren worden war, hochzuarbeiten. Ronnie hatte sie schon als Kind bewundert, wenngleich er nicht behaupten konnte, dass er sie wirklich gut kannte. Großtante Margaret hatte nie sehr viel mit Kindern anfangen können, und erst in den letzten Jahren – nach dem Tod seiner Mutter – hatte er eine engere Beziehung zu ihr aufgebaut.
Unter Verzicht auf seine gewohnte Koffeindosis – es war so kalt in der Küche, dass er erfroren wäre, ehe der Kaffee durchgelaufen war – schlüpfte er in seinen Mantel und ging zur Tür. Doch als er die Klinke schon in der Hand hatte, hielt er inne, und nachdem er noch einmal kräftig geflucht hatte, machte er kehrt, schnappte sich die Flasche Single Malt samt roter Schleife vom Tisch und steckte sie ein. Er könnte sich immer noch einen neuen – und besseren – kaufen, aber am Weihnachtsmorgen ohne Geschenk bei seiner Großtante aufkreuzen, das kam einfach nicht in Frage.
Das private Pflegeheim lag am Stadtrand von Crewe, in einem ruhigen Viertel mit gepflegten Einfamilienhäusern. Er wusste, dass es zu den besseren Einrichtungen dieser Art zählte – in seinem Berufsalltag hatte er schon mehr als genug Erfahrung mit städtischen Heimen gesammelt, die es mit den Hygienevorschriften nicht allzu genau nahmen. Doch auch hier gelang es selbst mit noch so großen Mengen von Politur und frischen Blumen nicht, den hartnäckigen Geruch nach Inkontinenz und Verwesung ganz zu überdecken.
Es war noch recht früh für einen Besuch, doch er wusste, dass die Bewohner ihr Frühstück zu einer, wie Großtante Margaret zu sagen pflegte, absolut unchristlichen Stunde serviert bekamen, und er wusste auch, dass Margaret um diese Tageszeit immer am muntersten war.
Obwohl die Oberschwester, eine füllige und stets penetrant gut gelaunte Frau, ihn noch freundlicher als sonst begrüßte, hatte er die Flasche Whisky zuvor vorsichtshalber in einer Einkaufstüte verschwinden lassen. Die Bewohner durften auf dem Heimgelände keinen Alkohol trinken, aber Babcock schob sich lächelnd und ohne den leisesten Anflug von schlechtem Gewissen an der Oberschwester vorbei.
Er fand Margaret allein im Aufenthaltsraum. In ein knallrotes Wollkostüm gehüllt, saß sie in ihrem Rollstuhl unter dem kitschig geschmückten künstlichen Baum wie ein Geschenk, das ein zerstreuter Weihnachtsmann
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